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"Die Verteilungsfragen stellen sich schärfer"

Hilfe Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband will eine Debatte über die Fürsorgepflicht des Staates und die Verwendung von Steuermitteln

Foto: Paritätischer Wohlfahrtsverband
Ulrich Schneider

57, ist Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und Herausgeber des eben erschienenen Buchs „Kampf um die Armut“ (Westend 2015)

taz: Herr Schneider, die Zahl der Flüchtlinge an den Tafeln und in Obdachlosenunterkünften steigt, es gibt Debatten über Wohnungsbau und Jobförderung für Flüchtlinge. Steuern wir in Deutschland auf eine Art neue Armenkonkurrenz zu?

Ulrich Schneider: Man darf die einzelnen Gruppen nicht gegeneinander ausspielen, wie es Politiker manchmal versuchen. Es stimmt, dass sich durch die hohe Zahl der Flüchtlinge Verteilungsfragen schärfer stellen. Das betrifft mehrere Ebenen, einmal die Tafeln und Obdachlosenunterkünfte, dann den Wohnungsbau und Arbeitsmarkt, die Bildung. Letztlich werden damit aber Verteilungsfragen der Haushalts- und Finanzpolitik berührt, nämlich die Besteuerung und die Verwendung von Steuermitteln.

Bei neuen Bedarfsgruppen gibt es ja drei Möglichkeiten: Entweder man hierarchisiert, das heißt, eine Gruppe kriegt mehr als die anderen, oder man rationiert, und alle bekommen etwas weniger oder alle bekommen gleich viel und man braucht dann eben mehr Steuermittel.

Eine Hierarchie, das darf nicht sein. Die Leute hier dürfen nicht den Eindruck gewinnen, dass jetzt nur noch für die Flüchtlinge etwas getan wird. Zum Beispiel wurden in den letzten Jahren die Programme für die Langzeitarbeitslosen heruntergefahren.

Wenn jetzt Frau Nahles sagt, für die Integration der Flüchtlinge in den Jobmarkt müsse der Finanzminister 2,5 bis 3 Milliarden Euro bereitstellen, dann muss es eben auch eine Förderung für die Langzeitarbeitslosen geben, die schon länger da sind. Wir brauchen einen Integrationsplan, der alle umfasst, die von Armut und Ausgrenzung betroffen oder bedroht sind. Alles andere wäre Wasser auf die Mühlen von Rechten und Rassisten.

In Berlin gibt es Pläne, für Flüchtlinge Unterkünfte in moduler Bauweise zu erstellen, wo zwei Leute ein Doppelzimmer bewohnen. Aber es fehlen ja auch Sozialwohnungen für alle Kleinverdiener.

Man darf den Bau von Unterkünften und von Sozialwohnungen nicht gegeneinander ausspielen. Der soziale Wohnungsbau hat einen viel längeren Vorlauf. Die Politik muss beides gleichzeitig fördern und das Signal senden: Wir tun etwas für die Flüchtlinge. Und wir engagieren uns gleichzeitig auch im sozialen Wohnungsbau für alle.‘

Bei den Tafeln hat der Andrang stark zugenommen.

Der Zulauf bei den Tafeln ist schon lange sehr groß. Ich habe auch schon von Sachbearbeitern in Jobcentern gehört, die Hartz-IV-Empfänger darauf hinweisen, dass sie doch zur Tafel gehen könnten, wenn das Geld zum Leben nicht reicht. Hartz-IV-Empfänger haben beispielsweise Schulden, hohe Stromkosten, alte Ratengeschäfte, die aus dem einen Regelsatz bezahlt werden müssen, der ohnehin zu knapp bemessen ist. Diese Leute haben dann kein Geld mehr zum Leben und gehen deswegen zur Tafel. Durch die Flüchtlinge verstärkt sich der Andrang nur, und ich finde es gut, wenn wir da eine neue Diskussion bekommen zum Kampf gegen die Armut und zur Fürsorgepflicht des Staates.

Besteht die Gefahr, dass bei den Armen hierzulande eine Art Neid auf die Flüchtlinge besteht?

Das erlebe ich nicht. Die Hartz-IV-Empfänger hier im Land sehen sehr wohl die schwierige Gesamtlebenssituation der Flüchtlinge, die hierherkommen ohne Besitz, entwurzelt, fern der Heimat und hier in Zelten leben müssen, in einem fremden Land, dessen Sprache sie nicht können. Wenn die Politik da nichts schürt, wie soll da Neid entstehen?

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