: „Verletzliche Sprache“
Literarische Peripherie Sólrún Michelsen präsentiert bei den Hamburger Nordischen Literaturtagen ihren ersten "Erwachsenenroman" über ihre harte Kindheit auf den Färöer-Inseln
66, ist eine der bekanntesten AutorInnen der Färöer-Inseln. 2002 hat sie den färöischen Kinderliteraturpreis und für den Erwachsenenroman „Tanz auf den Klippen“ den Mads-Andrias-Jacobsen-Literaturpreis erhalten.
taz: Frau Michelsen, ist Färöers Hauptstadt Thorshavn wirklich der Nabel der Welt? Ihr Kollege William Heinesen hat das 1920 behauptet.
Sólrún Michelsen: Natürlich! Der Nabel der Welt ist doch immer da, wo man selber sitzt!
Sind Sie Thorshavnerin?
Ja. Ich bin hier aufgewachsen, habe jung geheiratet und mit meinem Mann einen mobilen Essensservice aufgebaut. Mein erstes Buch erschien, als ich 45 war.
Schreiben war kein Jugendtraum?
Nein. Allerdings habe ich Bücher stets geliebt: Ich konnte mit sechs lesen und las Berge von Büchern. Die Autoren hielt ich für Halbgötter. Niemals habe ich erwogen, in deren Himmel zu steigen ...
... und taten es doch.
Ja, es begann mit einem Buch über meine Kindheit in den 1950er-Jahren. Es war eine sehr freie Kindheit. Wir gingen einfach raus, waren frech wie wilde Vögel. Ich hatte das Buch für meine Kinder geschrieben, aber irgendwer schickte es an einen Verlag. Der wollte ein Buch daraus machen, und ich habe Ja gesagt. Von mir aus hätte ich das nie gewagt.
„Tanz auf den Klippen“, aus dem Sie jetzt in Hamburg lesen, ist Ihr erstes Erwachsenenbuch. Aber es beschreibt die Welt aus der Perspektive eines Kindes.
Ja, es spielt in den 1950ern, als ich Kind war. Das waren harte Zeiten. Es gab keine sozialen Einrichtungen, du musstest auf dich selbst aufpassen. Es gab keine Arbeitslosigkeit, aber die Arbeit war hart. Und was mich betrifft: Ich war ein stilles, sensibles Kind. Ich sah Dinge, die ich falsch fand, obwohl die Erwachsenen sagten, das müsse so sein. Also versteckte ich diese Empfindungen in mir. Und jetzt kommen sie wieder heraus. Als Bücher.
Ein Beispiel?
Nehmen Sie das Mädchen in „Tanz auf den Klippen“. Ich kannte dieses Mädchen, das immer in einen Schuppen gesperrt war.
Warum?
Sie war wild, rannte weg und versteckte sich vor ihren Eltern. Es tat mir weh, das zu sehen, aber ich konnte nichts tun und hielt die Erwachsenen für böse. Dabei waren es einfach nur ältere Leute, die fürchteten, dass diesem wilden Kind etwas zustoßen könnte.
Haben Sie noch mehr Episoden in sich eingesperrt?
Ja. Kinder, die körperlich oder seelisch behindert waren, wurden in den 1950ern nach Dänemark geschickt. Sie gingen allein, verschwanden einfach. Viel später, als wir Krankenhäuser für sie gebaut hatten, kamen einige zurück.
Die Färöer gehören zu Dänemark. Mögen Sie einander?
Die persönlichen Beziehungen sind gut; fast jeder hat ein Familienmitglied in Dänemark. Politisch sieht es schon anders aus: Nur 50 Prozent der Färinger wollen weiter zu Dänemark gehören.
Würde Dänemark die Färinger gehen lassen?
Wirtschaftlich sind wir unbedeutend. Aber wenn wir gingen, würde auch Grönland gehen wollen. Grönland hat aber Bodenschätze, und die will Dänemark haben.
Was unterscheidet die färöische Identität von der dänischen?
Am besten kann man das anhand der Landschaft zeigen. Dänemark ist flach und grün. Die Dänen sind entspannt und lachen viel. Wir dagegen kämpfen mit Wellen, Stürmen, Klippen, das Leben ist rauer. Und wir sind stiller.
Aber jetzt gerade lachen Sie.
Ja, wir lachen viel – besonders, wenn wir feiern. Und es gibt kein Fest, auf dem nicht die uralten Balladen gesungen würden.
Mit denen die färöische Literatur begann.
Ja. Aufgeschrieben wurden sie aber erst um 1870. Das war der Beginn der färöischen Schriftsprache. Sie ist sehr verletzlich.
Warum?
Erstens, weil sie so klein ist. Es gibt 80.000 Sprecher: 50.000 hier, 25.000 in Dänemark und 5.000 anderswo. Zweitens, weil der Einfluss des Englischen so stark ist. Mein Enkel zum Beispiel ist zwei Jahre alt, und er spricht eine Menge englischer Worte.
Ist das Englische eine echte Gefahr für das Färöische?
Ich glaube nicht. Ich denke, das Färöische wächst – auch weil wir uns dessen sehr bewusst sind. Wir schreiben Bücher und übersetzen das Beste aus anderen Sprachen. Es gibt also immer genug auf Färöisch zu lesen.
Und wie integrieren Sie neue Ausdrücke ins Färöische?
Wir haben ein Institut, das Übersetzungen sucht und neue Worte erschafft. Einige werden angenommen, andere nicht. Computer heißt zum Beispiel „Telda“. Dies Wort ist ein großer Erfolg.
Und wie funktioniert Literaturkritik auf den Färöern? Wer kritisiert einen Kollegen, den er anderntags beim Bäcker trifft?
Einige haben es versucht und sich unbeliebt gemacht. Aber um zu wachsen, brauchst du konstruktive Kritik.
Haben Sie schon Kollegen kritisiert?
Nein.
Wurden Sie kritisiert?
Ja.
Mochten Sie es?
Anfangs nicht. Aber als ich darüber nachdachte, konnte ich etwas für mich herausziehen. Und zum Rest sagte ich: Das ist seine Meinung, meine ist anders.
Interview: Petra Schellen
Nordische Literaturtage: Mo, 23. 11., bis So, 26. 11., Literaturhaus Hamburg. Sólrún Michelsen liest am 24. 11. ab 19.30 Uhr.
Programm: literaturhaus-hamburg.de
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