EU kürt Erdoğan zum obersten Grenzschützer

Flüchtlinge Die EU und die Türkei verständigen sich auf einen Aktionsplan, der Flüchtlinge künftig von Europa fernhalten soll. Das Europaparlament übt scharfe Kritik. Doch Merkel und Juncker planen schon die nächsten Schritte zur Abwehr „illegaler Flüchtlinge“

Eine syrische Flüchtlingsfamilie am Bosporus in der türkischen Metropole Istanbul Foto: Emrah Gurel/ap

Aus Brüssel Eric Bonse

Die Einigung zwischen der Europäischen Union (EU) und der Türkei auf die gemeinsame Abwehr „irregulärer Migranten“ ist im Europaparlament auf scharfen Protest gestoßen. ­Liberale, Linke und Grüne kritisierten, dass Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die 27 anderen EU-Chefs die Lösung des Flüchtlingsproblems „outsourcen“ wollten.

Es sei „schäbig“, dass die EU nun Präsident Recep Tayyib Erdoğan zum „obersten Grenzschützer“ mache, schimpft Ska Keller von den deutschen Grünen. Er könne nicht verstehen, wieso die Menschenrechte nicht ganz oben auf die Agenda standen, klagt Liberalen-Chef Guy Verhofstadt.

Auch aus der CSU kam Kritik: Die Einigung sei „kein Blankoscheck“, sagte Manfred Weber, der die konservative Fraktion im Europaparlament führt. Die Christsozialen seien weiter gegen einen EU-Beitritt der Türkei und für eine „privilegierte Partnerschaft“. CDU und SPD hielten sich dagegen mit Kritik zurück.

Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu und die 28 Staats- und Regierungschefs der EU hatten sich am Sonntag auf einen „Aktionsplan“ zur Flüchtlingskrise sowie auf die Wiederbelebung der seit Jahren gestörten Beziehungen verständigt. So sollen die EU-Beitrittsgespräche wieder aufgenommen werden; ab Oktober 2016 könnten Türken auch ohne Visum in die EU einreisen.

Im Gegenzug soll die Türkei verstärkt gegen „illegale Migration“ übers Mittelmeer vorgehen. Ab Sommer 2016 soll sie zudem abgewiesene Asylbewerber aus Europa zurücknehmen. „Die Türkei muss ihr Äußerstes tun, um illegale Einwanderung nach Europa aufzuhalten, und die Zahl der Flüchtlinge muss erheblich zurückgehen“, sagte Marc Rutte, Regierungschef der Niederlande.

Doch der „Aktionsplan“ vom Sonntagabend bietet keinerlei Garantien für die geforderte Abschottung. Er bindet beide Seiten, nicht nur oder vor allem die Türkei. Und für die Begrenzung der Flüchtlings„ströme“ bietet er nur vage Kann- und Soll-Formulierungen. Wie es weitergeht, bleibt jedoch unklar.

Muss die Türkei nun die Flüchtlinge von der Überfahrt über die Ägäis nach Griechenland abhalten, zur Not auch mit Gewalt? Oder muss die EU zuerst die zugesagte Finanzhilfe leisten? Selbst Kanzlerin Merkel konnte dies nicht sagen. Es müsse noch darüber diskutiert werden, wer „den ersten Zug macht“, sagte sie nach dem Gipfel.

Offen ist auch, wie die EU die zugesagten 3 Milliarden Euro finanziert, mit denen die EU Flüchtlingsprojekte in der Türkei fördern will. Aus dem EU-Budget stehen nur 500 Millionen Euro bereit. Über den Restbetrag müssen sich die 28 Staats- und Regierungschefs noch einigen.

Offen ist, wie die EU die zugesagten 3 Milliarden Euro für die Türkei finanziert

Auch Deutschland habe noch keine Zusagen gemacht, betonte Merkel. Offenbar will sie die Unklarheit nutzen, um Druck auf die widerstrebenden Osteuropäer zu machen und ihnen mit einem Stopp von EU-Mitteln zu drohen.

Und was wird mit den europäischen Kontingenten, die Merkel neuerdings in Berlin propagiert? Darüber will die Kanzlerin beim nächsten regulären EU-Gipfel kurz vor Weihnachten reden. Dazu hat sie eine „Koalition der Willigen“ gebildet, der neben Griechenland und Italien auch die Benelux-Staaten, Schweden und Finnland angehören.

Bei einem eigens angesetzten Treffen vor dem EU-Gipfel konnte sich der Merkel-Freundeskreis aber auf keine Beschlüsse einigen. Die Niederlande stellten sich quer, Belgien meldete Sicherheitsbedenken an. „Es wurden keine Zahlen genannt“, betonte Merkel nach dem Treffen.

Allerdings kann die Kanzlerin auf Hilfe aus Brüssel hoffen. Kommissionschef Juncker kündigte am Montag an, seine Behörde werde im März einen Vorschlag zur Umverteilung von Flüchtlingen vorlegen. Die „EU-Kontingente“ könnten also doch kommen – wenn alle Mitgliedstaaten mitspielen und für die Türkei zahlen. Bisher sieht es danach allerdings nicht aus.