Warten auf den islamischen Reformator

Erdoğan Politik der Angst: Bei einem Hintergrundgespräch in der Berliner Friedrich-Ebert-Stiftung ging es am Montag um die Folgen der Wahl in der Türkei

„Ich glaube, ich werde verrückt“. In den Gesprächen nach dem Bombenattentat Anfang Oktober in Ankara hörte die türkische Autorin Ece Temelkuran fast nur noch diesen Satz. Mehr noch als die mehr als 125 Toten brachte die Menschen um den Verstand, dass Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu erklärt hatte, die Wahlchancen seiner AK-Partei hätten sich durch das Blutbad erhöht. Kein Wunder, dass der Konsum von Antidepressiva in der Türkei in den letzten 17 Jahren um 160 Prozent zugenommen hat. Das hatte kürzlich die Psychopharmakologische Vereinigung des Landes bekannt gegeben.

An dem „Wahnsinn namens Türkei“ (Temelkuran) dürfte sich so schnell kaum etwas ändern. Auch Ayhan Kaya, Politologieprofessor an der Istanbuler Bilgi-Universität, konnte am Montag in Berlin wenig Hoffnung machen, dass sich die mentale und politische Lage am Bosporus bessert. In einem Hintergrundgespräch der Friedrich-Ebert-Stiftung deutete der Direktor des dortigen Europa-Instituts den Sieg der AKP bei den Wahlen am 1. November als Ergebnis eines langfristig angelegten „regime change“, der sich durch eine Abstimmung kaum rückgängig machen lassen wird.

Auch für Kaya spielen die „politics of fear“ in diesem Prozess eine große Rolle. So wie Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan zwischen den Wahlgängen im Juni und November die Furcht vor dem Terror schürte, den er mit seinem Blitzkrieg gegen die Kurden selbst hervorrief, lässt sich die Türkei als Beispiel für den Rückfall in den Hobbes’schen Gesellschaftsvertrag lesen: Der Souverän erzeugt Angst und diese Angst erzeugt den Souverän. Noch wichtiger ist offenbar aber ein strukturelles Moment.

Für Kaya beginnt die Verwandlung der Türkei nicht im Jahr 2002, dem Jahr, in dem Erdoğan zum ersten Mal Ministerpräsident wurde. Sondern mit dem Jahr 2007. Mit der Wahl von AKP-Mitbegründer Abdullah Gül zum Nachfolger des letzten kemalistischen Präsidenten Ahmet Necdet Sezer habe eine neue Phase der Durchdringung der Staatsbürokratie begonnen: Seitdem seien die Justiz, Wissenschaft und Bildung, die Medien und auch das Militär in der Hand der AKP.

Struktureller Rassismus

Gesiegt habe die AKP vor allem in einer Art Kulturkampf. Mit einem „strukturellen Rassismus“, so Kaya, habe die AKP das Land in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite stehe die islamische Bourgeoisie, Minderheiten wie Aleviten, Kurden oder Liberale würden stigmatisiert. Mit seinem Diskurs der „Viktimisierung“ habe Erdoğan der religiösen Mehrheit erfolgreich eingebläut, sie werde noch immer von den elitären Kemalisten unterdrückt. Die konservativen Gegenreformen in Sachen Alkohol und Geschlechterbeziehungen bildeten den Unterbau der „Heiligen Dreifaltigkeit“ von Erdoğans „Neuer Türkei“: In der ist man Sunnit, Muslim, Türke.

Zwar hat der SPD-Türkei-Experte Dietmar Nietan sicher recht, wenn er prophezeit, dass der Sprung des Landes zur ökonomischen Weltmacht bis zum einhundertsten Republik-Jubiläum 2023, den Erdoğan forciert, nicht mit einer monokulturellen Autokratie gelingen kann. Das sei nur möglich mit einer offenen Gesellschaft. Diese Einsicht hilft allerdings denen nicht, die am Bosporus derzeit fast täglich weiter vor den Kadi oder ins Gefängnis wandern.

Eine der paradoxen Schlussfolgerungen aus der gegenwärtigen Entwicklung des Landes lautet vermutlich dennoch, dass es zum Wiederaufbau einer modernen, freien Türkei eines „islamischen Reformators“ (Nietan) bedarf. Der Impuls zum Wandel muss aus der Mehrheitskultur kommen. Und die ist nun einmal religiös. Wer das nicht anerkennt, wird bei diesem Wandel vermutlich genauso scheitern wie spätestens in den letzten zehn Jahren Atatürks Modernisierung von oben scheiterte. Auch wenn das für säkulare Demokratinnen wie Ece Temelkuran „verrückt“ klingen mag.

Ingo Arend

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