Der Renegat Er ist in Israel in einem zionistischen Umfeld aufgewachsen, ging mit 18 zur kämpfenden Truppe der Armee und entschied 2002, das Land zu verlassen. Heute nennt er sich Ex-Israeli und erinnert an die palästinensische Bevölkerung seiner Heimat. Ein Gespräch mit dem Künstler, Fotografen und Wahlberliner Avi Abraham Berg: „Sie nannten mich einen Verräter“
Interview Alke WierthFotos David Oliveira
Taz: Herr Berg, Sie nennen sich „Ex-Israeli“. Was bedeutet das?
Avi Abraham Berg: Ex-Israeli, das bedeutet für mich, dass ich mich moralisch und emotional als ehemaliger Israeli sehe.
Sie haben noch die israelische Staatsbürgerschaft?
Es ist nicht so einfach, die aufzugeben. Aber ich habe mich vor 15 Jahren entschieden, dass Israel nicht der Ort ist, an dem ich mein Leben fortsetzen möchte. Und diese Entscheidung habe ich vor vier Jahren umgesetzt, indem ich nach Berlin gezogen bin – eine der besten Entscheidungen, die ich in meinem Leben getroffen habe.
Sie definieren sich selbst als sehr politisch.
Für mich ist das Individuelle, Persönliche immer sehr politisch.
Sie sind in einem politischen Umfeld groß geworden: in einem Moshav. Was ist das?
Als Israel gegründet wurde, gab es viel freies Land: Es war frei, nachdem es von den Palästinensern geleert worden war, die dort zuvor gelebt hatten. Es war wichtig für die zionistische Bewegung, dieses Land schnell zu besiedeln. Denn damals waren die Juden in Israel eine Minderheit. Deshalb wollte der Staat so viel Land wie möglich besiedeln, um die Juden zur Mehrheit zu machen. Die Kibuzzim und Moshavim waren wichtige Instrumente dafür.
Was ist der Unterschied zwischen Kibbuz und Moshav?
Einfach gesagt, ermöglichen die Moshavim etwas mehr Privatbesitz als die Kibbuzim. Heute haben sich auch die Kibbuzim verändert. Damals schliefen die Kinder dort nicht in ihrem Elternhaus, sondern in einem Kinderhaus, es wurde gemeinsam gegessen, es gab keinen privaten Landbesitz. In den Moshavim lebten die Familien zusammen, jede Familie hatte eigenes Land. Aber bestimmte ökonomische Angelegenheiten wurden gemeinschaftlich betrieben.
Wie war es in Ihrem Moshav?
Ich bin in Sde Moshe aufgewachsen, etwa in der Mitte des heutigen Israels. Das war ein sehr sozialistisches und zionistisches Umfeld. Damals galten die Menschen, die in Kibbuzim oder Moshavim lebten, als Speerspitze des Zionismus. Sie eroberten das Land durch ihre Anwesenheit dort.
Hatten sich Ihre Eltern entschlossen, dort zu leben? Manche Neueinwanderer wurden ja einfach dort angesiedelt.
Ja, in viele Moshavim wurden die Leute direkt von den Einwandererschiffen gebracht, ohne groß nach ihren Absichten gefragt zu werden. Sie mussten das akzeptieren. Meine Eltern lebten aus Überzeugung dort. Sie hatten sich in einem Kibbuz kennengelernt, dort sind meine beiden großen Schwestern geboren. Die Lebensweise im Kibbuz, der Mangel an Privatsphäre, wurde ihnen irgendwann zu anstrengend und sie zogen in den Moshav.
Woher kamen Ihre Eltern?
Meine Mutter ist in Frankreich geboren, ihre Eltern waren viele Jahre vor dem 2. Weltkrieg aus Polen dorthin eingewandert. Mein Vater stammte aus Bulgarien.
Wie waren sie?
Meine Mutter war sehr sozialistisch, und sie war Leiterin in einer zionistischen Jugendbewegung in Frankreich. Als sie nach Israel kam, war sie Teil des zionistischen Projektes. Deshalb der Kibbuz. Mein Vater war etwas weniger ideologisch. Er war vor der bulgarischen Armee davongelaufen, ein Deserteur. Auf dem Weg nach Israel hat die Politik ihn eingefangen. Er war 1947 auf einem Schiff nach Palästina, dem von den Briten, die damals noch die Kontrolle im späteren Israel hatten, die Einfahrt verweigert wurde. Mein Vater war über ein Jahr lang in einem britischen Lager auf Zypern, bevor er von dort fliehen konnte und nach Israel kam.
In Ihrer Kindheit gab es Angriffe der palästinensischen Fatah auf israelische Siedlungen, 1967 den 6-Tage-Krieg gegen Ägypten, Jordanien, Syrien. Haben Sie das miterlebt?
Ich habe das in den Nachrichten gesehen. In unserer Gegend gab es keine Angriffe. Aber mir war das bewusst als Kind, und mir war zu dieser Zeit sehr klar, wer die Guten und wer die Bösen sind.
Und zwar?
Wir waren im Recht. Die Anderen waren die Angreifer. Das war eine Folge der Indoktrination, die ich als Kind erlebte, in der Familie, im Moshav und der ganzen Gesellschaft, etwa der Schule.
Hatten Sie als Kind keine Angst?
Der Mensch: Avi Berg, 1960 in Israel geboren, ist Künstler, Jurist, Vater und Menschenrechtsaktivist. 2011 verließ Berg Israel und siedelte nach Berlin über – ins politische Exil, aus Protest gegen die israelische Politik. Hier versucht er mit einer Gruppe von AktivistInnen auf den israelischen Umgang mit den PalästinenserInnen aufmerksam zu machen – etwa durch eine Aktion an der Kottbusser Brücke. Dort hängte die Gruppe Bänder mit den Namen der 551 im Gazakrieg 2014 getöteten palästinensischen Kinder auf.
Die Kunst: In Berlin steht neben den politischen Aktionen die Kunst wieder in Bergs Lebenszentrum. Seine detailistischen Fotografien und Bilder sind Experimente über die Sinneswahrnehmung Sehen und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit. Mehr Informationen auf Bergs Webseite www.aviberg.com.
Es ist eine starkes Gefühl, in dem Bewusstsein zu leben, dass man auf der richtigen Seite steht. Ich hatte nie Angst. In gewisser Hinsicht galt das für die gesamte Zeit damals. Wir schlossen nie die Tür ab, wenn wir das Haus verließen. Niemand hatte Angst vor Einbrüchen.
Das klingt idyllisch.
Ja. Aber es hat mir nie gefallen, in so einer kleinen Gesellschaft zu leben, wo jeder alles über jeden weiß und das Recht zu haben meint, alles zu kommentieren, was der andere tut. Ich habe das nicht als richtige Umwelt für mich empfunden. Ich habe mit elf Jahren verkündet, dass ich nicht im Moshav bleiben werde. Das war sehr schmerzhaft für meine Eltern, dass ich ihren übernommenen Auftrag, das Land zu kultivieren, nicht fortsetzen würde.
Wann haben Ihre politischen Standpunkte sich zu ändern begonnen?
Als ich sieben Jahre alt war, lebten wir für dreieinhalb Jahre in Honduras, wohin mein Vater als landwirtschaftlicher Berater von der israelischen Regierung geschickt worden war. Damals begann mein Horizont sich zu erweitern. Nach der Rückkehr nach Israel begann ich, Fragen zu stellen. Das half mir, mich von dieser Indoktrination freizumachen.
Wie reagierte Ihre Umgebung?
Ein Beispiel aus der Schule: Einmal diskutierte unsere Klassenlehrerin mit uns die Frage, ob man sich in bestimmten Fällen für sein Land opfern müsse. Ich habe mich gemeldet und gesagt, auf keinen Fall – fest überzeugt, damit die Meinung der Mehrheit auszusprechen. Aber das war nicht der Fall. Ich stand mit meiner Ansicht allein da, auch die Lehrerin half mir nicht.
Und im Moshav?
Dort habe ich ganz einfache Fragen gestellt: Warum arbeiten die Palästinenser als Landarbeiter auf unseren Feldern, warum haben sie kein eigenes Land? Was sind das für Ruinen auf den Hügeln? Wer hat dort gelebt? Das waren neugierige Fragen eines Kindes, das wissen will, was um es herum vorgeht. Aber niemand wollte mir diese Fragen beantworten. Und wenn ich Antworten bekam, haben mir diese nicht gefallen. Aber sie haben mir die politische Situation in Israel erschlossen.
Wenn es Palästinenser in Ihrer Umgebung gab, konnten Sie doch die fragen?
Es gab keine. Die Arbeiter kamen aus entfernten Dörfern. Arabische Kinder in meinem Alter gab es in der Gegend nicht, und es wäre damals undenkbar gewesen, palästinensische Freunde zu haben.
Wann kamen Sie mit Palästinensern in Kontakt?
Als ich älter wurde und begann, nach Tel Aviv zu fahren, sah ich Araber, die dort arbeiteten, in Restaurants das Geschirr abräumten oder Straßen reinigten. Aber wirklich in Kontakt zu ihnen kam ich später. Die offizielle Geschichte lautete ja damals, dass es den Palästinensern unter der israelischen Besetzung gut gehe, ökonomisch, aber auch politisch. Es hieß, wir geben ihnen Jobs, wir bringen ihnen Demokratie. Sie sind glücklich und dankbar. Es gibt einen Begriff dafür: gütige Okkupation. Erst die erste Intifada hat dieses Denken aufgebrochen. Viele Israelis, auch ich, begannen sich zu fragen: Wenn sie so glücklich sind, warum kämpfen sie dann gegen uns?
Sie waren auch Soldat.
Mit 18 war für mich klar, dass ich zur Armee gehe, zur kämpfenden Truppe. Es war Teil der zionistischen Pflicht. Ich habe nicht nur die damals obligatorischen drei, sondern vier Jahre lang gedient, der Erwartung meines Vaters geschuldet. Ich wurde Offizier. Aber ich hasste es, Soldaten zum Schießen auszubilden – Menschen zu zwingen, Dinge zu tun, die ich selbst schrecklich fand. Nach drei Monaten bin ich zurückgetreten. Ich hatte Angst, verrückt zu werden.
Was geschah dann?Ich wurde dann als Kommandeur außerhalb der kämpfenden Truppe eingesetzt. 1982 musste ich aber mit meiner Einheit am Krieg im Libanon teilnehmen. Wir waren nicht in aktive Kämpfe verwickelt. Dennoch war das, was ich dort erlebt habe, der Beginn eines Traumas. Als ich nach dem Ende meiner Militärzeit erstmals als Reservist einberufen wurde, entschloss ich mich, mich dem mit einem Gutachten, das mir ein posttraumatisches Syndrom attestierte, zu entziehen.
Existierte das auf Papier?
Ich weiß bis heute nicht, ob die Psychiaterin mir das Gutachten aufgrund einer echten Diagnose oder aus ideologischen Gründen ausgestellt hat.
Als Reservist hätten Sie in den besetzten Gebieten eingesetzt werden sollen.
Ja, und für mich stand fest: Ich würde nicht als Soldat dort hineingehen. Damals habe ich mich entschlossen, Kunst zu studieren. Denn die harten Erfahrungen in der Armee hatten mich dazu gebracht, meine Zukunftspläne zu ändern. Meine Ansichten und Positionen wurden viel klarer.
Später wurden Sie Jurist.
Das war 2002. Zwei Jahre zuvor hatte ich die Entscheidung getroffen, Israel zu verlassen. Meine Kinder waren damals aber noch zu klein, um sie alleinzulassen. Deshalb entschloss ich mich, Recht zu studieren, um bis zu meiner Auswanderung effektiver und professioneller als bisher politisch aktiv zu sein.
Was führte zu dieser Entscheidung?
Damals waren die Friedensverhandlungen in Camp David mit Jassir Arafat, Ehud Barak und Bill Clinton gescheitert. Barak, der in Israel als Linker und Friedensstifter galt, hatte das mit den Worten begründet, er habe den Palästinensern das beste Angebot gemacht, das Israel ihnen je machen könne, und sie hätten es abgelehnt. Sie seien keine Partner für den Frieden. Das war eine Lüge. Aber schlimmer als die Lüge selbst war für mich, mit welcher Geschwindigkeit und Leichtigkeit sie von den jüdischen Israelis akzeptiert wurde. Ich fragte mich, warum diese Lüge sie so glücklich macht. Angenommen, es wäre keine Lüge und es gäbe keine Aussicht auf Frieden – warum sollte irgendjemand weiter in dieser Situation leben wollen? Und wenn es eine Lüge ist: Was sagt das über die israelischen Juden aus?
Ein Erweckungserlebnis?
Ja, es war ein Big Bang für mich. Es führte zu meiner Entscheidung, dass ich in diesem Land nicht mehr bleiben kann. Damals schloss ich mich Aktivisten an, die mit politischen Protestaktionen gemeinsam mit Palästinensern für Gleichheit und Koexistenz kämpften. Wir haben etwa Wassertankwagen zu palästinensischen Siedlungen gebracht, die von der Wasserversorgung abgeschnitten worden waren. Später habe ich als Jurist und Anwalt für Menschenrechtsorganisationen gearbeitet.
All das hat aber nicht Ihre Absicht geändert, Israel zu verlassen?
Ich hatte durch diese Arbeit ja einen viel stärkeren Einblick in das, was tatsächlich vor sich geht, ich bekam schreckliche Dinge mit. Palästinensische Leben zählen nicht viel in Israel. Wenn Palästinenser getötet werden, etwa durch Siedlergewalt, gibt es oft nicht einmal Ermittlungen. Das alles hat mich eher bestärkt zu gehen.
Warum nach Deutschland?
Nicht Deutschland: Berlin. Ich war zuvor mit meinem Freund da – ich hatte inzwischen entdeckt, dass ich homosexuell bin. Nach unserem letzten mehrwöchigen Aufenthalt in Berlin stand mein Entschluss, dass ich hier leben will, fest. Ich bin dann nur kurz nach Israel zurück – und war wenige Wochen wieder hier.
Was hat Ihre Familie dazu gesagt, dass Sie Israel verließen?
Mein Vater war bereits tot. Meine Mutter sagte nicht viel, wir haben eine schlechte Beziehung. Sie hat sich von einer Sozialistin zu einer ultra-orthodoxen Jüdin gewandelt. Meine Schwester, auch einige Freunde, nannten mich einen Verräter. Ich hatte Verrat am israelischen Staat, am Zionismus begangen.
Wie ist heute Ihre Haltung zum Zionismus?
Es ist eine schlechte Ideologie. Ich bin nicht gegen das jüdische Recht auf ein „National Homeland“. Aber was machen Sie, wenn Sie feststellen, dieses Land ist bewohnt? Die Zionisten ignorieren die arabische Bevölkerung einfach – außer, wenn sie sie bekämpfen oder als Arbeitskräfte brauchen.
Ihre Haltung zum Zionismus ist in Deutschland nicht gerade populär.
Ich kann verstehen, dass das Motiv der Schuld dominant ist, wenn man in Deutschland über Israel spricht. Aber Schuld ist keine hilfreiche Emotion, ich glaube nicht, dass daraus Gutes entsteht. Aus Verantwortung: ja. Aber was fangen Sie mit Schuld an? Ja, der Holocaust hat dazu geführt, dass die Einwanderung nach Israel sich beschleunigte. Aber ist der Holocaust der Grund dafür, dass israelische Soldaten dann 750.000 Menschen aus ihren Häusern vertrieben, diese Häuser teilweise zerstörten? Warum haben sie Bäume gepflanzt über die zerstörten Dörfer? Ihnen die Rückkehr und sogar Entschädigungen verweigert? Das geschah nicht wegen des Holocaust. Das war Teil des zionistischen Projekts, Israel von der nichtjüdischen Bevölkerung nicht nur zu reinigen, sondern die Spuren ihrer Existenz zu verwischen. Kritik an Israel ist nicht notwendigerweise Antisemitismus.
Sie haben hier an die palästinensische Bevölkerung erinnert, indem Sie Bänder mit Namen und Geburtstagen der 2014 im Gaza-Krieg getöteten Kinder an einer Brücke befestigten. Was war Ihr Ziel?
Ich habe das nicht alleine, sondern mit einer Gruppe von AktivistInnen gemacht. 551 Kinder, das ist eine abstrakte Zahl. Aber wenn Sie so ein Band in der Hand halten, stellt das eine emotionale Verbindung her. Manche der getöteten Kinder waren Babys. Sie sind nicht Teil des Konflikts. Es ist klar, dass Israel in Gaza furchtbare Dinge getan, internationales Recht gebrochen hat. Wir wollten das auf einer persönlichen Ebene vermitteln.
Ist es gelungen?
Ich denke, wir hatten Erfolg. Die Leute sind stehen geblieben, haben uns angesprochen und Fragen gestellt. Viele haben Bänder mitgenommen – anfangs dachten wir, das sei negativ, aber ich denke, es zeigt, dass die Leute eine persönliche Erinnerung mitnehmen wollten.
Es ziehen immer mehr Israelis nach Berlin: wie Sie aus politischen Gründen?
Auch, wenn viele nur wegen der speziellen Atmosphäre in der Stadt, der kostenlosen Universitäten und der niedrigen Mieten kommen: Zunehmend verlassen Menschen Israel, weil sie die politische Situation nicht mehr aushalten. Für viele, auch für mich, ist klar: Wenn es Veränderung in Israel geben wird, wird diese nicht von innen kommen. Es braucht Druck von außen.
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