Merkel soll sich in aktuelle Spionageaffäre einschalten

NSA Neue Enthüllungen alarmieren Kanzleramt und Parlament. US-Botschafter einbestellt

Abgehört: die Kanzlerin und ihr Handy Foto: Rainer Jensen/dpa

BERLIN taz | Ihren letzten Sitzungstag vor der Sommerpause hatten sich die Abgeordneten im NSA-Untersuchungsausschuss wohl anders vorgestellt: Im Zentrum sollte die Befragung des Zeugen Ronald Pofalla stehen. Der hatte als Kanzleramtschef die NSA-Affäre im Sommer 2013 für beendet erklärt und damit viel Spott geerntet. Doch dann kam die Enthüllungsplattform Wikileaks mit neuen Geheimdokumenten.

Die veröffentlichten Unterlagen erhärten den Verdacht, dass US-Geheimdienste systematisch die deutsche Regierung ausspähten. Und zwar nicht nur Kanzlerin Angela Merkel, sondern auch Bundesministerien. Mindestens 69 Telefonnummern der Regierung hatte die NSA demnach im Fokus. Es soll sich nicht um Handynummern, sondern um Festnetzanschlüsse direkt in deutschen Ministerien gehandelt haben. Das Interesse galt offenbar wirtschafts-, handels- und geldpolitischen Großprojekten. Betroffen waren den Dokumenten nach neben dem früheren Finanzminister Oskar Lafontaine, Exwirtschaftsminister Werner Müller und zahlreichen weiteren hochrangigen Politikern und Beamten auch die heutige Bundesumweltministerin Barbara Hendricks – in ihrer früheren Funktion als Staatssekretärin im Finanzministerium.

Zudem veröffentlichte Wikileaks zwei Berichte, die zusammenfassen sollen, was die NSA in Telefonaten der Kanzlerin mitschnitt. In einem Bericht aus dem Herbst 2011 ging es demnach um die politische Ausrichtung der Eurozone. Merkel diskutierte mit einem Mitarbeiter die Möglichkeiten eines weiteren Schuldenschnittes für Griechenland. Das Dokument legt nahe, dass Merkel und Finanzminister Wolfgang Schäuble schon damals uneins in ihrer Haltung zu Sparauflagen für Athen waren.

Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel versuchte am Donnerstag, die Vorwürfe herunterzudimmen. „Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu“, versicherte der SPD-Chef. „Wir machen nichts in Ministerien per Telefon, was man abhören müsste.“

Doch die Neuigkeiten alarmieren das politische Berlin. Der Vorsitzende des NSA-Ausschusses Patrick Sensburg (CDU) versicherte, man habe die geleakten Unterlagen „sofort gesichert“. Schließlich deuteten sie auf „direkte Spionage auf Ziele mit wirtschaftlicher Relevanz“ hin. SPD-Obmann Christian Flisek forderte, es dürfe jetzt „kein Wegducken“ geben. „Da ist Frau Merkel gefordert.“ Die Kanzlerin müsse einen „sehr intensiven Dialog mit unseren amerikanischen Freunden suchen“.

Statt Merkel nahm sich Kanzleramtschef Peter Altmaier der Sache an. Er hat US-Botschafter John Emerson umgehend zum Gespräch einbestellt. Ein außergewöhnlicher Vorgang.

Die Opposition zeigte sich empört und zitierte Merkels Geheimdienststaatssekretär Klaus-Dieter Fritsche in den Ausschuss. Grünen-Obmann Konstantin von Notz rief den Generalbundesanwalt auf, neue Ermittlungen einzuleiten. Er habe „die Hoffnung noch nicht aufgegeben“, dass die Karlsruher Behörde bereit sei, geltendes Recht in Deutschland auch durchzusetzen: eine Anspielung auf die jüngste Einstellung des Ermittlungsverfahrens wegen des Kanzlerinnenhandys.

„Man bekommt ein ironisches Verhältnis dazu“

Vizekanzler Sigmar Gabriel

Die Befragung des Zeugen ­Ronald Pofalla begann am Donnerstag nach Redaktionsschluss.

Astrid Geisler, Martin Kaul