Eine Schule für alle: Dabei sein ist fast alles

Gegen die UN-Konvention für Behindertenrechte hält Niedersachsen an schulischer Aussonderung fest. Ein Verein will das nicht länger hinnehmen und plant die erste inklusive Lehranstalt des Landes in Hannover.

Gemeinsam malen, jenseits der Frage: Wer ist hier normal? Bild: dpa

Die Bundesrepublik ist ein Entwicklungsland, wenn es um die schulische Integration behinderter Kinder geht. Besonders desaströs sind die Zustände in Niedersachsen. Landesregierung und Städte reden zwar von Inklusion, vom gemeinsamen Unterricht für Behinderte und "Normale", halten aber eisern am Konzept der Förderschulen, sprich: der Aussonderung fest. Der Verein "Eine Schule für Alle" will das nicht mehr hinnehmen und plant in Hannover die erste inklusive Lehranstalt des Landes.

David besuchte einen integrativen Kindergarten. Probleme gab es keine. Die fingen erst an, als der unter dem Down Syndrom leidende Junge sechs Jahre alt war. Mehrere Grundschulen verweigerten ihm die Aufnahme. Seitdem geht David in eine Förderschule.

Sie habe "nicht den Eindruck, dass mein Sohn dort glücklich ist und sehr viel lernt", sagt Melanie von Berg, die aufmerksam verfolgt, was aus der "Schule für Alle" wird. So wie viele andere auch, sagt Ute Wrede, die zu den Initiatorinnen des Fördervereins gehört und die Probleme kennt. Ihre Tochter Rosa hat verbale Dyspraxie, dem Kind fällt es schwer zu sprechen.

430.000 behinderte Kinder bekommen zurzeit in Deutschland eine schulische Sonderbehandlung - führend dabei ist Niedersachsen.

In keinem anderen Bundesland werden so viele Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf vom allgemeinen Schulsystem ausgegrenzt: Nicht einmal 5 Prozent der Behinderten im Land besuchen allgemeine Schulen.

In Schleswig-Holstein (wie auch in Berlin) können dagegen bereits 47 Prozent eine Regelschule besuchen.

Im Bundesschnitt sind es fast 15 Prozent. In Skandinavien sind es 90 Prozent - egal, ob sie lern-, körper- oder geistig behindert sind.

Sie wollte Rosa nicht auf eine Förderschule schicken, "weil die staatlicherseits verordneten Schubladen einfach nicht passen". Für eine Sprach-Förderung spreche Rosa zu wenig, für eine Taubblindenschule höre und sehe sie zu gut, für die Kategorie "Geistige Entwicklung" sei Rosa wiederum zu schlau. "Das Beispiel meiner Tochter ist nicht die Ausnahme, sondern die Regel", klagt die Landschaftsarchitektin.

Doch alle Bemühungen, das Kind im Sommer 2009 in einer Regelschule unterzubringen, endeten mit Absagen. "Drei Monate zuvor hatten Bund und Bundesländer die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert", zürnt Wrede. Paragraph 24 besagt, Behinderte müssen "innerhalb des allgemeinen Bildungssystems" unterrichtet werden. Damit verstößt die Aussonderung gegen geltendes Recht. Wrede engagierte sich bei der "Schule für Alle". Sie soll 2011 an den Start gehen. Aber in den Amtsstuben der Landeshauptstadt, sagt sie, "gehen die Bemühungen, uns zu unterstützen, bisher gegen Null".

Stadtsprecherin Anja Menge verweist auf vorhandene Integrationsklassen, räumt aber ein, dass allein die Schulen über die Aufnahme entscheiden. Immerhin sei "die Diskussion über Inklusion im Gange". Hannover habe die Entwicklung schlicht verschlafen", meint Ulrich Spielmann. "Nun wird die Politik langsam wach". Spielmann ist Chef der Annastift Leben und Lernen GmbH, die gemeinsam mit der Landeskirche die Trägerschaft der "Schule für Alle" übernommen hat. Das diakonische Stift betreibt seit Jahren eine Ganztagsförderschule. "Mit großem Einzugsgebiet", sagt Spielmann. Dabei entstehe automatisch ein "isoliertes Umfeld", das der Integration nicht gut tue. Deshalb habe man 2007 den Versuch gestartet, in einer Nienburger Regelschule Inklusivität anzubieten. Mit Erfolg, weshalb die GmbH in Hannover jetzt die "Schule für Alle" unterstützt. Spielmann hofft auf eine Kooperation mit der Stadt. Zumindest ist ein Gespräch mit Oberbürgermeister Stefan Weil (SPD) anberaumt. Es sei halt schwierig, weil die Grundschulen "heute Probleme haben, ihre Klassen voll zu bekommen und keine Konkurrenz wollen", sagt Spielmann.

Ein wunder Punkt, der auch die Haltung der Landesregierung erklärt, die stur am dreigliedrigen Schulsystem festhält. Mit Kultusministerin Elisabeth Heister-Neumann (CDU) hat der Förderverein neulich ein inklusives Vorzeigeprojekt in Brandenburg besucht. Sie sei beeindruckt gewesen. Doch ein Modell mochte sie nicht erkennen. "Wir wollen eine Pluralität der Förderorte", gab die Ministerin zu Protokoll. Und: "Die Bedürfnisse des Kindes sollten entscheiden."

Wenn es danach ginge, dürfte der "Schule für Alle" nichts im Wege stehen. Kein Schüler, der inklusiven Unterricht genossen hat, sagt Spielmann, "will zurück in eine Förderschule alten Stils".

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