Milli Görüs und die Hamas: "Einfluss auf 60.000 Muslime"
Hinter dem verbotenen Verein IHH, der an die Hamas spendete, stecken Milli-Görüs-Funktionäre. Islamismusexpertin Dantschke fordert dennoch einen Dialog, besonders auf lokaler Ebene.
taz: Frau Dantschke, am Montag hat der Bundesinnenminister die Internationale Humanitäre Hilfsorganisation (IHH) verboten, weil sie 6,6 Millionen Euro an die radikalislamische Hamas transferiert haben soll. Hinter der IHH stecken Funktionäre der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs (IGMG). Hat Sie diese Verknüpfung überrascht?
Claudia Dantschke: Nein, das ist seit Jahren bekannt. Vor allen während des Gaza-Krieges im Januar 2009 war die Zusammenarbeit offensichtlich, die Verbindung zur IHH wird von der IGMG auch nicht bestritten. Außerdem war bekannt, dass Mustafa Yoldas, eines der bekanntesten Milli Görüs-Gesichter in Norddeutschland, seit März 2009 Vorsitzender der IHH ist.
Milli Görüs, die größte islamistische Organisation in Deutschland, gilt bislang als gewaltfrei und legalistisch. Nun unterstützen Milli Görüs-Funktionäre laut Innenminister eine Terrororganisation. Muss man die Einschätzung von Milli Görüs überdenken?
46, ist Islamismusexpertin. Seit 2002 arbeitet sie am Zentrum Demokratische Kultur in Berlin, für das sie zahlreiche Studien verfasst hat.
Legalistisch heißt ja noch nichts über die Ideologie der IGMG: Für sie steht die Hamas nicht für Terror, sondern für Widerstand. Sie unterstützt den sozialen Arm der Hamas, allerdings nicht nur aus humanitären Gründen, sondern auch aus ideologischen. Man fühlt sich als Teil einer großen weltweiten Opfergemeinschaft, an deren Spitze die Palästinenser in Gaza stehen. Indirekt wird so die Hamas als ganzes unterstützt.
Braucht es also eine Neueinschätzung?
Das ist schwierig. Milli Görüs ist eine weltweite Bewegung und die IGMG in Deutschland ist nur ein Teil davon. In der Gesamtbewegung gibt es durchaus Kräfte, die einer aktiveren Art der Umsetzung der eigenen islamistischen Ideologie das Wort reden. Die Leute in Deutschland und generell in Europa schätze ich so nicht ein. Ihnen geht es eher darum, mit legalen Mitteln ihre Ideologie langfristig in die Realität umzusetzen. Jetzt stellt sich natürlich die Frage, ob die Unterstützung der Hamas dieser Selbstdarstellung noch entspricht.
Innenstaatssekretär Schröder hat am Montag bereits gesagt, man müsse die neuen Erkenntnisse bei der Einschätzung von Milli Görüs künftig mit berücksichtigen. Welche politischen Konsequenzen wird es geben?
Die deutsche Milli Görüs-Führung ist sehr groß. Es gibt Teile, die sehr in die Türkei gewandt sind und noch stark mit dem radikalen Kurs des Milli Görüs-Gründers Erbakan verbunden sind. Es gibt aber auch Funktionäre, die sich stärker auf Deutschland und Europa beziehen und eine Loslösung vom türkischen Einfluss propagieren. Interessanterweise stellt nun genau dieser Teil der Milli Görüs-Funktionäre die Führung der IHH und ist dadurch diskreditiert. Ihr Ziel war es, die IHH zu einer von der Türkei unabhängigen Organisation aufzubauen und damit auch den eigenen Einfluss zu vergrößern. Eine Abkehr von den ideologischen Grundmustern ist damit aber nicht verbunden, wie sich zeigt.
Der Innenminister hat Milli Görüs - oder korrekter gesagt: den Islamrat - vor einigen Monaten von der Islamkonferenz ausgeschlossen, weil es strafrechtliche Ermittlungen unter anderem gegen den Generalsekretär gibt. Rückt jetzt der staatliche Dialog mit Milli Görüs in noch weitere Ferne?
Das befürchte ich. Schon derzeit gibt es große Unterschiede, in Hamburg ist die Politik ganz anders als im Bund. Dort wird Milli Görüs eher eingebunden, es gibt eine Auseinandersetzung. Mustafa Yoldas, der IHH-Vorsitzende, ist auch Repräsentant der Schura, eines Zusammenschlusses von Moscheevereinen in Hamburg, und damit ein wichtiger Ansprechpartner für die staatliche Seite. Ob sich das jetzt ändert, bleibt abzuwarten. Ich halte aber die Auseinandersetzung insbesondere auf lokaler Ebene für dringend notwendig.
Warum?
Milli Görüs hat direkten Einfluss auf schätzungsweise 60.000 Menschen und auf ein noch größeres Umfeld. Viele einfache Muslime sind Mitglied, tausende Kinder und Jugendliche wachsen in die Organisation hinein. Will man die Integration der Muslime, kann man sie nicht außen vorlassen.
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