Debatte Menschenrechte vs. Wirtschaft: Im Geiste Carl Schmitts
Das Interesse an einer funktionierenden Weltwirtschaft dominiert die neue Weltordnung. Und wo bleiben die Menschenrechte?
Der große Liberale Ralf Dahrendorf warnte 1997 davor, dass wir uns „an der Schwelle zum autoritären Jahrhundert“ befinden. Gegenwärtig nimmt dieser neue Autoritarismus immer deutlichere Konturen an – und zwar bei weitem nicht nur in Russland, wo Präsident Putin soeben mit dem Agentengesetz Menschenrechtsgruppen einen schmerzhaften Maulkorb verpasste.
Auch in China genießen Bürgerrechte, speziell Meinungs- und Pressefreiheit, keinen wirklichen Schutz. Und nur weil der Westen dem indischen Subkontinent stärker zugeneigt ist, kann im dortigen Kastensystem von allgemein gültigen Menschenrechten noch lange keine Rede sein.
1989, in den Tagen der friedlichen Revolution, war schnell von einem „Ende der Geschichte“ in Frieden und Freiheit, Demokratie und Menschenrechten die Rede. Kriege zwischen Staaten sollten der Vergangenheit angehören, stattdessen eine Weltpolizei global für Recht und Ordnung sorgen. Heute sind wir von einer derartigen hegelianischen Endzeit meilenweit entfernt.
Mehr und mehr begreifen wir, dass wir uns seit 1989 nur in einer Zwischen- und Übergangszeit befunden haben. Aus der angestrebten einen Welt mit universalistischem Anspruch ist eine multipolare Welt geworden – mit verschiedenen autoritären Machtzentren größerer und kleinerer Provenienz, von Peking über Moskau bis nach Ankara und Teheran.
„Völkerrechtliche Großraumordnung“
Vor einem Dreivierteljahrhundert entwickelte der konservative, mit dem Faschismus sympathisierende Staatsrechtler Carl Schmitt seine „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“, die der heutigen Welt erschreckend ähnelt. Aus einem Universum wird bei Schmitt das Pluriversum, anstelle der einen Weltordnungsinstanz des Völkerbundes beziehungsweise der UNO gibt es dort mehrere Großmächte, die im eigenen Herrschaftsbereich nach Gutdünken schalten und walten.
ist Jurist, Politikwissenschaftler und Redakteur der http://www.blaetter.de. Zuletzt erschienen „68 oder neues Biedermeier“ und „Die gefährdete Republik“ (beide bei Wagenbach).
Historisches Vorbild dafür ist die Monroe-Doktrin von 1823: Ihr ideologischer Kern, das US-amerikanische „Not in my backyard“ – Haltet euch raus aus meinem Hinterhof, nämlich aus Lateinamerika –, wird heute zum allgemeinen Credo der neuen Großmächte. Menschenrechte? Fehlanzeige. Im jeweiligen Hinterhof ist der Feindbekämpfung Tür und Tor geöffnet – ob unter dem Siegel des Kampfes gegen westliche Agenten oder gegen den Terrorismus.
Allein die neu aufkommenden Großmächte für diese Entwicklung verantwortlich zu machen, wie es speziell gegenüber Russland nicht selten geschieht, geht jedoch an den wahren Ursachen vorbei. Denn für das Scheitern der einstigen Hoffnung ist der Westen selbst hochgradig verantwortlich. Soeben ist die Biografie Kofi Annans erschienen, von 1997 bis 2006 UN-Generalsekretär. Keineswegs zufällig trägt sie im Englischen den Titel „Interventions“.
Dem Anspruch speziell Annans nach richteten sich diese Interventionen auf den Schutz der Menschenrechte, faktisch aber stand ab 1989 dahinter oft etwas völlig anderes – schlichte Machtpolitik. Spätestens mit dem auf Lügen basierenden Irakkrieg verspielte der Westen so einen Großteil seiner Glaubwürdigkeit.
„Gefährlicher als der Terrorismus selbst“
Der Philosoph Richard Rorty hatte frühzeitig prophezeit, „dass der Krieg gegen den Terrorismus gefährlicher als der Terrorismus selbst ist“. Er sollte Recht behalten. Mit seinem Krieg für „infinite justice“ untergrub Bush junior auf unabsehbare Zeit die von seinem Vater proklamierte neue, friedliche Weltordnung. Die Folterbilder von Abu Ghraib und Guantánamo haben den eigenen Anspruch, dem Nahen Osten Demokratie und Menschenrechte zu bescheren, in sein Gegenteil verkehrt. Heute heißt es daher, gegen den Westen gerichtet, mit den Worten Carl Schmitts: „Wer Menschheit sagt, will betrügen.“
Die Menschenrechte als säkularisiertes Heilsversprechen stehen heute, auch dank des moralischen Versagens des Westens, unter massivem Ideologieverdacht. Dabei hatten gerade sie in den späten Jahren des Kalten Krieges den Dissidenten und Bürgerrechtlern des Ostblocks als Berufungsgrundlage für die am Ende erfolgreiche Demokratisierung gedient. Und vor exakt 20 Jahren wurde auf der Wiener „Weltkonferenz über Menschenrechte“ deren globale Geltung noch einmal von 171 Staaten beglaubigt.
Heute kann davon nicht nur in Russland, sondern in weiten Teilen der Welt keine Rede mehr sein. Denn auch die USA als vormals letzte verbliebene Supermacht gewöhnen sich zunehmend an den neuen Zustand der Rechtlosigkeit. In Zeiten der globalen Krise kommt es offenbar nur noch auf eines an: Im Zusammenspiel mit Russland und China die ohnehin hoch fragile Weltwirtschaft am Laufen zu halten.
„It’s the economy, stupid.“ Deshalb richtet Obama seinen Blick vor allem zu den Wachstumsregionen im Pazifik. Zehn Jahre nach Beginn des Irakkriegs ziehen sich die Vereinigen Staaten, zieht sich der Westen insgesamt nun auch aus Afghanistan zurück – und macht damit den Weg frei für eine Welt im Geiste Carl Schmitts.
Sich selbst stabilisierendes Pluriversum
Denn auch diese neue Weltordnung eines sich selbst stabilisierenden Pluriversums der hegemonialen Regionalmächte ist höchst trügerisch, auch wenn sie nicht durch den Störfaktor der Menschenrechte belästigt, sondern scheinbar durch das gemeinsame Interesse an einer funktionierenden kapitalistischen Weltwirtschaft zusammengehalten wird.
Denn der Kampf um die immer knapper werdenden Ressourcen wird in Zukunft zunehmend zu Konflikten führen, vor allem von den Rändern. Die Staaten der Peripherie geraten ihrerseits zunehmend unter Druck und betreiben mit größtmöglichem Einsatz ihre Interessenpolitik, siehe Nordkorea, aber auch Iran/Israel.
Hier droht kriegerische Anarchie bzw. der Rückfall in den Hobbes’schen Naturzustand – im Kampf um das geopolitische survival of the fittest. Dann würde auch das letzte und wichtigste Axiom des Ideologen Carl Schmitt greifen: die Definition der Politik als Auseinandersetzung zwischen Freund und Feind, die zwingend und immer wieder in den Kriegszustand führt – und damit zum definitiven Ende der Einen Welt.
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