An Stalin gescheitert: Altes Pathos reproduziert

Das Bucerius Kunst Forum in Hamburg feiert den russischen Konstruktivisten Alexander Rodtschenko - allerdings nur dessen frühere Jahre.

Wollte kein weltfremder Künstler sein: Rodtschenko im Arbeitsanzug. Bild: Michail Kaufman/Sammlung Rodtschenko/Stepanowa © VG Bild-Kunst, Bonn 2013

Alexander Rodtschenko mochte kein Pathos. Er war gegen die Anbetung gemalter Bilder und dagegen, Kunst schöner zu finden als die Realität, Gemälde als Hort des Guten und Wahren anzusehen, abgetrennt vom Alltag der Massen. Verabscheuungswürdig fanden die russischen Konstruktivisten um den 1891 Geborenen diesen Quasi-Autismus von Kunst und Ästhetik.

Rodtschenko wollte mit seinen abstrakten Werken keine Antipode zur Welt erschaffen. Fremd war ihm der Mystizismus seines Konkurrenten Kasimir Malewitsch, dessen Schwarzes Quadrat eine heimliche Ikone war. Und dass jede Linie und Farbe symbolisch sei, so wie es Wassily Kandinsky tat, daran glaubte er auch nicht.

Er wollte vielmehr marxistisch-wissenschaftliche Objektivität, sah sich selbst als Materialist: Für ihn war die Linie nur Linie, eigenständige Form. „Lineismus“ nannte er das – und da lauerte keine zweite Bedeutung. Allenfalls konnte aus schräg gegeneinander geschnittenen Liniengittern neuer Bildraum entstehen – oder zwischen zwei gegenüberstehenden Rechtecken, die wie Türen wirken. Letztlich wollte Rodtschenko die Form aus ihrer Zweidimensionalität befreien, indem er ihr durch Schattierungen Tiefe gab, bis sie fast haptisch aus dem Bild fiel.

Gemälde zum Ausschneiden kann man diese Kompositionen nennen oder: die Vorbereitung auf das Ende der Malerei. Denn auch die Farbe wurde bei Rodtschenko nur um ihrer selbst willen zelebriert und modelliert. Das nun in Hamburg ausgestellte „Triptychon in Rot, Gelb, Blau“ ist Symbol dieses „Endes der Malerei“ geworden. Genau genommen hat Rodtschenko nicht nur die Formen, sondern zugleich deren Farbe aus ihrer Zweidimensionalität gelöst. Schritt für Schritt wie ein bedächtiger Konstrukteur, als den er sich selbst bezeichnete.

Manchmal verwandelte er die gemalten Formen dann tatsächlich in Materie: Dann fertigte er Kiosk-Modelle oder Mobiles an. Einige davon hängen nun im Oktogon des Bucerius Kunst Forums. Wie Planeten- oder Atommodelle aus ineinandergesteckten Kreisen oder Dreiecken sehen die Holzkonstruktionen aus und werfen dramatische Schatten an die Wand. Eine theatralische Präsentation, die gerechtfertigt ist: Es handelt sich um die ersten schwebenden Skulpturen der Kunstgeschichte.

Naturwissenschaftliche Experimentierfreude

Begriffe wie „oben“ und „unten“ zählten nicht, fand Rodtschenko. Das war radikal und entsprach seiner naturwissenschaftlichen Experimentierfreude, seiner Begeisterung für Relativitätstheorie, Mikrobiologie und Astronomie: Das Größte und das Kleinste, die Wechselbeziehung von Welle und Teilchen – alles suchte er zu integrieren.

Die Grenze zwischen Kunst und Naturwissenschaft galt es zu überschreiten: Bei aller Abstraktion gleichen seine Scheiben Sonnenfinsternis-Coronas, und überhaupt: war ihm die Kunst ein Kind der Mathematik. Man habe ehrlich zu sein, die Struktur von Kunstwerken nüchtern zu analysieren – und auch in der eigenen Kunst stets deren Machart offenzulegen.

Immer wieder kollidierte der hehre Anspruch mit der Realität: Rational war die Herkunft der Motive nicht zu erklären, das gab Rodtschenko offen zu, also ein „Wunder“.

Bleiben die alle Genregrenzen verwischenden Collagen und, vor allem, die Fotos, das heute mit am stärksten rezipierte Genre des Allrounders: extreme Vogelperspektiven, Diagonal-Verschiebungen der Bildachse, geometrische Fotos und Porträts in extremen Nahsichten. Sie leugnen die Norm, hinterfragen aber auch die rational erlebbare Welt.

Mutig waren all diese Neuerungen damals, in den 1920er- und 30er-Jahren. Und korrelierten mit dem Aufbruch um den Künstler herum. Denn auch politisch ging es in der frühen Sowjetunion ja ums rationale Analysieren der gesellschaftlichen Vorgänge – und als Teil dessen um die „ästhetische Erziehung des Menschen“. Weil die Kunst da einiges zu bieten hatte, durften die russischen Konstruktivisten früh hohe Ämter bekleiden: Jahrelang arbeitete Rodtschenko etwa im Volkskommissariat für Bildungswesen. An die fruchtbare Zusammenarbeit von Ingenieuren und Künstlern zugunsten der bald klassenlosen Gesellschaft glaubten die Künstler. Die Lösung schien so schlicht wie monumental: die Gesellschaft als Gesamtkunstwerk. Hierfür entwarf auch Rodtschenko Theaterkostüme, Möbel, Geschirr und – Werbeplakate.

Die forderte die Politik den Künstlern in den 1920ern ab, als man den Massenkonsum ankurbeln wollte. Rodtschenko und der Schriftsteller Wladimir Majakowski verdienten mit ihrer gemeinsamen Werbefirma bald gut Geld mit der Gestaltung von Aushängen. Diese Aneignung als kapitalistisch zu verstehende Werbemechanismen war unter den Konstruktivisten durchaus umstritten. Rodtschenko machte bereitwillig mit, während Wladimir Tatlin seinen – nie gebauten – Propagandaturm für die Dritte Internationale entwarf.

Angebliche reaktionäre Aktivitäten

Dem sozialistischen Realismus, der ab 1932 künstlerische Staatsdoktrin wurde, huldigten die Konstruktivisten nie. Was vielleicht der Grund dafür war, dass etliche 1930 bei Stalin in Ungnade fielen. Da hieß es plötzlich, Malewitsch und Rodtschenko seien selbstbezogene „Formalisten“. Wochenlang wurde Malewitsch verhört, Rodtschenko verlor seine öffentlichen Posten und wurde von 1941 bis 1942 nach Sibirien verbannt – wegen angeblicher reaktionärer Aktivitäten. Die beiden Rivalen überlebten, ihr Elan aber war gelöscht: Malewitsch malte danach gegenständlich, datierte seine Bilder aus Scham zurück. Rodtschenko kaprizierte sich auf Propagandafotografie, dokumentierte die Arbeiten am stalinistischen Prestigeprojekt Weißmeer-Ostsee-Kanal.

Diesen Aspekt thematisiert die Hamburger Ausstellung nicht. Eine irritierende Ambivalenz: Da zeigt man einen Künstler, der nicht nur Entwicklungen der 1960er-Jahre vorwegnahm, sondern auch explizit dem politischen Aufbruch huldigte. Verschwiegen aber bleibt die Tatsache, dass er am mächtigsten und brutalsten Repräsentanten des neuen Sowjetsystems scheiterte. Explizit zeigt die Ausstellung das Frühwerk Rodtschenkos und hat resignativen Deutungen damit von vornherein einen Riegel vorgeschoben. Indem sie das tut, verharrt sie allerdings in ebenjener Aufbruchsstimmung, die Stalins Diktatur später zunichte machte.

Natürlich kann man eine solche Ära als historisches Phänomen vorstellen. Sie aber derart isoliert und mumifiziert zu präsentieren, das relativiert geradezu die Geschichte. Hinzu kommt: Gegen die Präsentation ausgerechnet in einem derart großbürgerlichen Haus wie dem Bucerius Kunst Forum hätte Alexander Rodtschenko wohl wütend aufbegehrt – gerade in seinen frühen Jahren.

„Rodtschenko. Eine neue Zeit“: bis 15. September, Hamburg, Bucerius Kunst Forum
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