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Forschung über NichtwählerDie unbekannte Größe

Nicht alle Parteien verlieren Wähler in gleichem Maß. Armut und Wahlverhalten gehören zusammen. Verliererin ist deshalb vor allem die SPD.

Wer wählt, wer wählt nicht? Bild: photocase_stockwerk23

KÖLN taz | Die Idee kam Armin Schäfer nach dem zweiten Umzug in Köln. Das gediegene Lindenthal, Heimat der Kölner Immobilienkönige und Uni-Professoren, hatte der Sozialwissenschaftler längst hinter sich gelassen und war zunächst in der Südstadt gelandet, dem Kunst- und Intellektuellenquartier.

Doch dann wechselte er mit Freundin und erstem Kind auf die andere Seite des Rheins nach Köln-Mülheim, einem ehemaligen Arbeiterstadtteil. Reste gründerzeitlicher Altbauten mischen sich hier mit den schnell gebauten Mietsblöcken der Nachkriegszeit; die Einkaufsstraße voller Spielsalons, der zentrale Wiener Platz eine städtebauliche Endzeitvision.

Schon frühmorgens sitzen hier die Drogenopfer auf einem Betontreppenbrunnen, in dessen Wasserrinnen Zigarettenkippen, Müll und Essensreste aufquellen. In den Seitenstraßen immerhin: nigelnagelneue Wohnungen, auch mit Park dahinter, am Rhein sogar von ganz gehobener Art. Ein Bio-Supermarkt findet in der Haupteinkaufsstraße ausreichend Kundschaft.

Nichtwählen

Seit 1972 ist die Beteiligung bei Bundestagswahlen nahezu kontinuierlich gesunken - auf zuletzt 70,8 Prozent bei der Bundestagswahl 2009.

Die niedrigste Wahlbeteiligung in den Bundesländern wurde 2006 bei der Landtagswahl Sachsen-Anhalt registriert: 44,4 Prozent.

Deutschland liegt im europäischen Vergleich nicht so schlecht. Höher allerdings ist die Beteiligung in Belgien und Luxemburg, wo Wahlpflicht herrscht.

In jüngster Zeit erst wird in Deutschland systematisch über den Zusammenhang von Wahlfreude und ökonomischem Status geforscht. Wenn soziale Deklassierung und Wahlenthaltung zusammenhängen, könnte die Wahl am Sonntag auch als Test gelten: Da die Arbeitslosigkeit geschrumpft ist, steigt vielleicht auch wieder die Wahlfreude. (uwi)

Hier wie zuvor am anderen Rheinufer ging Schäfer nach der Bundestagswahl 2009 einem langgehegten Hobby nach. Ausdauernd kann er über den nach Stadtbezirken aufgedröselten Wahlergebnissen in der Lokalzeitung brüten. „Ich bin in diese Tabellen verliebt“, sagt er. Was ihm ins Auge stach: Wie stark sich nicht nur die Ergebnisse für die Parteien, sondern auch die Wahlbeteiligung in den ihm vertrauten Vierteln, „Veedeln“ sagt man in Köln, unterschieden. Reiches Lindenthal: viele Wähler, armes Mülheim: wenig Wähler, Südstadt: dazwischen.

Punktewolken mit Erkenntnisgewinn

„Ich besorgte mir bei der Kommune die Arbeitslosigkeitsdaten für die Stadtteile“, erzählt Schäfer, und weil er nun einmal Sozialwissenschaftler ist, „machte ich ein Streudiagramm“. Streudiagramme sind Punktewolken zwischen einer senkrechten und einer waagerechten Linie. Sie können zeigen, wie zum Beispiel Armut und Wahlverweigerung korrelieren.

Der Befund war eindeutig: „Je mehr Arbeitslose in einem Stadtteil leben, desto höher ist die Nichtwählerquote“. Er arbeitete weitere Daten ein. Ob Hartz-IV-Bezug, Durchschnittsalter bei der ersten Geburt, Zahl der Gymnasiasten – „es ist fast egal, man findet immer dasselbe Muster“, sagt Schäfer: Je ärmer desto wahlmüder.

Dies scheint insbesondere zu stimmen, wenn man Manchmal- von Dauernichtwählern zu unterscheiden versucht: Die höchste Wahlverweigerungsquote haben junge Leute von Anfang, Mitte zwanzig; sie interessieren sich oft einfach nicht, lassen sich nicht in die Pflicht nehmen, Motto „nicht mein Ding“.

Dauernichtwähler dagegen sind älter, häufiger sozial deklassiert, und bei ihnen spielt Frustration eine große Rolle: Die Politiker „haben kein Ohr mehr für die Sorgen der kleinen Leute“ ist die wichtigste Antwort dieser Nichtwähler, überproportional übrigens Ostdeutsche, in einer Befragung im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung von diesem Jahr.

Soziale Lage und die Nichtwähler

Schäfer, Jahrgang 1975, arbeitet am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. „Ich will nicht in einem Elfenbeinturm von Gleichartigen leben und arbeiten“, sagt er. „Mülheim ist liebenswert“. Das Nebeneinander von türkischen Konditoreien mit bombastischen Pastellzuckerkreationen und Läden mit hüfthohen Glitzeradlern in der Keupstraße – hier ging 2004 die NSU-Bombe hoch –, von altdeutschen Bierlokalen und dem hellen Eltern-Café mit Sanddorn-Schorle für Vitamin-C-Freaks hat an einem sonnigen Spätsommertag tatsächlich einen leicht brüchigen Charme.

Die leeren Schaufenster hier an der Ecke, sagt Schäfer im Vorbeigehen: „Das war so ein schöner Spielzeugladen. Die sind frustriert raus, weil immer weiter gestohlen wurde.“ Eine Ecke weiter ist der teure Privatkindergarten – „direkt auf dem Weg zur Autobahnauffahrt. Dort wird morgens das Kind abgesetzt und dann beschleunigt.“

Mülheim ist mit seinen über 40.000 Einwohnern so groß wie eine Stadt, mit guten und weniger guten Ecken. Müsste es nicht möglich sein, überlegte Schäfer 2009 nach der Wahl, soziale Lage und Nichtwählerquote noch kleinteiliger zu erfassen?

Er ließ sich Material aus Bremen, Duisburg, Hamburg, aus anderen Großstädten kommen. Es war, als führe man mit der Lupe auf die Wohnviertel zu: Je kleiner die Erhebungsräume geschnitten waren, desto deutlicher wurde der Zusammenhang von Wohlstand und Wahlfreude. Wo die Statistiken schon länger geführt werden, zeigte sich: Die Unterschiede zwischen armen und reichen Stadtteilen sind außerdem stark gewachsen.

Verspätete Wahlforschung

1972 trennten 10 Prozentpunkte in Bremen den Ortsteil mit der höchsten von dem mit der geringsten Wahlbeteiligung, 2009 waren es 35 Prozentpunkte. Und in den Kölner Stadtteilen hat sich der Abstand zwischen 1987 und 2009 auf 43 Prozentpunkte verdoppelt. Das ist ein Skandal, fand Schäfer. Er marschierte zu den Kollegen und Kolleginnen in der Wahlforschung, schließlich hatte er selbst bis dato eher Europapolitik, also ganz andere Dinge bearbeitet. Wie konnte es sein, dass diese enormen Spreizung bislang fast gar nicht erforscht worden war? „Das war für die schon abgehakt“, sagt er. Ja, ja, Bildung und Wahlneigung und so.

Es war zu Unrecht abgehakt. In Deutschland wird mit einigem Ehrgeiz überhaupt erst seit 1990 über Nichtwähler geforscht, angetrieben vom Schock über die niedrige Wahlbeteiligung ausgerechnet bei der Deutsche-Einheits-Wahl. Doch hatte seither noch niemand systematisch Sozialdaten aus Stadtteilen mit dem Wahlverhalten korreliert. Es war einfach neu, was Schäfer da vorwies.

Und es war das Gegenteil der verbreiteten Lehrmeinung, dass Nichtwähler doch auch irgendwie egal seien, weil sie laut Umfragen im Schnitt genauso wählten wie die Wähler, die Regierungsbildung also gar nicht durchs Nichtwählen verändert werde. Denn ganz offensichtlich fand der Rückgang der Wahlbeteiligung seit 1972 vor allem dort statt, wo SPD-Wähler wohnten.

Schäfers Zahlen widersprachen den Umfrageergebnissen. „Schon die Antwort auf Umfragen setzt einen Beteiligungswillen voraus, der Nichtwählern sehr wahrscheinlich eben genau abgeht“, erklärt Schäfer. Umgekehrt äußern sich – auch medial – solche Nichtwähler, die sogar ausgesprochen wohlverdienend sind: Professoren, Journalistinnen. Das verzerrt nicht nur die Umfrageergebnisse, sondern auch die öffentliche Wahrnehmung. Die nichtbefragungswilligen Nichtwahlwilligen, sie bleiben im Dunkeln, eine unbekannte Größe der Forschung wie der Demokratie.

Nichtwählen steckt an

Schäfers Aufsatz erschien 2012. Er dürfte der Auslöser dafür sein, dass in diesem Wahljahr erstmals so deutlich über den Zusammenhang von Armut, sinkender Wahlbeteiligung und Wahlergebnis gesprochen wird, ob und inwiefern die SPD und mit Abstrichen die Linkspartei darauf angewiesen sind, dass die Menschen zur Wahl gehen.

Schäfer reicht derzeit seine Habilitationsschrift über den Verlust politischer Gleichheit ein, darüber, wie ganze Bevölkerungsteile nicht nur sozial, sondern auch demokratisch abgekoppelt werden. „Ich sage nicht, dass da nicht auch andere Faktoren im Spiel sind als Armut“, schränkt Schäfer ein. Vermutlich steckt Nichtwählen auch an. „Bringt ja nichts“ ist ein infektiöser Satz. Die gefühlte Wahlpflicht lässt in allen Schichten nach, stärker aber noch in Milieus, die meinen, ihnen fühle sich ja auch niemand verpflichtet.

Dicht an dicht hängen am Wiener Platz die Wahlkampfplakate der Parteien. Es ist Markttag, doch von den hölzernen Wahlkampfbüdchen ist nur eines besetzt. Das andere, so stellt sich im Lauf des Tages heraus, wurde in der Nacht zum zweiten Mal aufgebrochen, die Plakate, Kugelschreiber und Luftballons kaputtgemacht. Nicht alle Mülheimer schätzen es, erst bei Bundestagswahlen umworben zu werden. „Direkte Ansprache hilft bei der Mobilisierung“, sagt Schäfer, „doch stelle ich mir die Frage, ob die Parteien überhaupt noch genug Personal dafür haben.“

Kein Superrezept

Was hilft noch? Die Parteien stellen inzwischen Frauen und Migranten auf, weil sie wissen, dass sich nicht alle WählerInnen von weißdeutschen Männern vertreten fühlen. „Warum gilt eigentlich nicht Gleiches für Arbeiter?“, fragt Schäfer. Wenn er Vorträge bei Parteien halte, fragten deren Vertreter ihn auch immer eindringlich, was zu unternehmen sei. Doch das sofort zum 22. September wirksame Superrezept zur Gewinnung der Nichtwähler könne er nicht bieten.

Schäfer guckt in einem der kleinen gentrifizierten Winkel von Mülheim, dem Café VreiHeit, in seine Biosaftschorle. Im Rheineck 20 Meter weiter, wo geraucht und ab mittags Kölsch oder Schnaps getrunken wird, war er auch zwar schon. „Aber da bleibt man fremd.“ Er stellt sich vor, dass dort die Nichtwähler am Tresen stehen könnten. Oder sind es doch die Frauen die gerade beim Netto-Supermarkt die Einkaufskörbe wieder abstellen? Mehr als die Sozialdaten ihres Stadtviertels hat er von ihnen nicht. Das aber ist mehr, als die meisten von uns bislang von ihnen wussten.

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