Debatte Rentenpolitik: Ab in die Altersarmut

Deutschland hat das Bismarck’sche Rentensystem abgeschafft, ohne etwas Adäquates an seine Stelle zu setzen. Sogar Großbritannien macht es besser.

Gegen die langfristig drohende Altersarmut können auch die Maßnahmen der großen Koalition wenig ausrichten. Bild: photocase/hannibie

Zu Beginn des Millenniums notierten die Briten erfreut, dass der Titel des „kranken Mann Europas“ an die Bundesrepublik übergegangen war, die schleppendes Wachstum und reformbedürftige Sozialsysteme plagten. Inzwischen bewundert man Deutschland von der Insel aus wieder vorbehaltslos für seine wirtschaftliche Stärke. Gelobt werden in dem Zusammenhang besonders die einschneidenden Sozialreformen der Regierung Schröder. Dieses Lob ist kurzsichtig.

Die deutschen Rentenreformen folgten dem „Drei-Säulen-Modell“, das seit den 1990er Jahren von Weltbank und EU besonders jenen Ländern vehement empfohlen wurde, die sich bis dato hauptsächlich auf großzügige, einkommensbezogene gesetzliche Renten stützten.

Deutschland zählt dazu. Die Rentenversicherung wurde hier bereits Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt, dann 1957 grundlegend erweitert. Dieses „Modell Bismarck“ schrieb seitdem für viele den Lebensstandard im Alter fort und schützte so vor Altersarmut. Zu Beginn des Millenniums galt es aber auch als langfristig unfinanzierbar.

Das Drei-Säulen-Modell

Die Regierung Schröder war von der Idee der drei Säulen überzeugt, das heißt, sie glaubte, dass eine Mischung aus gesetzlicher, betrieblicher und individueller Vorsorge dem demografischen Wandel und der ökonomischen Globalisierung besser widerstehen könne. Das Modell Bismarck wurde deshalb 2001 abgeschafft.

Aus feministischer und sozialdemokratischer Sicht gab es gute Gründe, diesen Schritt zu begrüßen. Gerade Mütter oder Menschen mit geringer Bildung und kürzeren Erwerbsleben erhielten in diesem System wesentlich geringere Renten als der „Brotverdiener“. Zudem zeigen die Erfahrungen aller Länder Europas, in denen das Drei-Säulen-System schon seit Jahrzehnten gilt, dass es eine gerechte Alternative zum Modell Bismarck sein kann.

Allerdings sind in den nordischen Ländern, den Niederlanden, der Schweiz und neuerdings auch Großbritannien die drei Säulen nach dem „Modell Beveridge“ strukturiert. In einem bahnbrechenden Report propagierte Sir William Beveridge 1942 erstmals Universalversicherungen gegen die typischen Armutsrisiken, denen Menschen auf dem Weg „von der Wiege bis zur Bahre“ begegnen können. Das Modell beruht auf einer armutsvermeidenden gesetzlichen Einheitsrente, zu der (fast) alle BürgerInnen Zugang haben; es kompensiert also soziale Ungleichheiten, die durch Bildungsunterschiede, Erziehungsverantwortung und Arbeitsmarkt entstehen. Ganz wichtig ist, dass dieser Zugang ohne Bedarfsprüfung erfolgt. Hinzu kommen dann für Arbeitgeber verpflichtende Betriebsrenten, die für eine einkommensbezogene Aufstockung der Grundrente sorgen.

Wäre die Abschaffung des Modells Bismarck 2001 mit einer Übernahme des Modells Beveridge einhergegangen, hätten FeministInnen und SozialdemokratInnen keinen Grund gehabt, den Abgang des Bismarck-Modells zu beklagen. Leider kam es anders. Deutschland hat zwar ein Drei-Säulen-Modell eingeführt, dabei aber die Beveridge-Prinzipien ignoriert.

Drastische Rentenkürzung

In Deutschland wurde die erste gesetzliche Säule drastisch gekürzt. Anders als im Beveridge-Modell bleibt die Rente am Lebenseinkommen orientiert: Wer viel einzahlt, bekommt viel heraus. Eine gesetzliche Mindestrente für alle, von der diejenigen mit niedrigem Lebenseinkommen profitieren könnten, gibt es nicht. Aufgrund dieser Kürzungen liegt die deutsche gesetzliche Rente heute unter dem Niveau, das in allen anderen westeuropäischen Ländern gilt.

Gemäß der OECD zum Beispiel können Menschen, die 2009 ihr Erwerbsleben in Deutschland begannen und die Hälfte des Durchschnittslohns verdienen, im Ruhestand nur noch mit Renten rechnen, die 55 Prozent ihres letzten Nettolohnes betragen werden; das Äquivalent in Österreich liegt bei 91 Prozent, in Italien, Finnland, Schweden und Norwegen bei etwa 72 Prozent, in den Niederlanden bei 105 Prozent, in Dänemark gar bei 131 Prozent. Die Situation für Menschen mit Durchschnittslohn ist kaum besser.

Nach dem Willen deutscher Reformer sollten die Kürzungen durch die zweite Säule, die freiwillige Ausweitung von Betriebs-, und durch die dritte Säule, die Riester-Renten, kompensiert werden. Dieser Plan hat zwei entscheidende Schwächen: Die Zusatzrenten sind freiwillig und weder Beiträge noch Leistungsniveau sind festgelegt. Bisherige Untersuchungen zeigen, dass die Leistungen bei Weitem nicht ausreichen werden, um die Kürzungen der gesetzlichen Ansprüche zu kompensieren.

Vergleichen wir diesen Befund mit der Erfahrung der Beveridge-Länder, sind wir nicht überrascht. Überall dort, wo schon seit geraumer Zeit das Drei-Säulen-Modell gilt, wurden freiwillige Betriebsrenten durch Systeme ersetzt, zu denen Arbeitgeber Beiträge zahlen müssen. Selbst in Großbritannien, wo der Glaube an den Markt fest verankert ist, führte die Labour-Regierung 2007/2008 verpflichtende Betriebsrenten ein und erhöhte die gesetzliche Rente.

Umfassender Reformbedarf

Das Gesetz wurde trotz Finanzkrise von den konservativ-liberalen Regierungen übernommen, da das Modell niedriger gesetzlicher und freiwilliger Zusatzleistungen als gescheitert galt. Was ist auf diesem Hintergrund vom „Rentenpaket“ der sozialdemokratischen Ministerin Nahles zu halten? Wir wissen, dass mit steigendem Bildungsniveau auch die Lebenserwartung zunimmt. Deshalb sind Reformen gerecht, die denjenigen mit kürzerer Ausbildungszeit erlauben, im Alter von 63 Jahren in den Ruhestand zu treten, wenn sie 45 Jahre gearbeitet haben, auch wenn in erster Linie Männer davon profitieren werden. Die Lebenserwartung dieser Menschen ist kürzer als die von Akademikern, warum sollten sie weniger Zeit im Alter für sich haben dürfen als höher Gebildete?

Gerecht ist ebenfalls, dass auch Mütter, die Kinder vor 1992 zur Welt brachten Rentenzuschläge für deren Erziehung erhalten. Das Rentenpaket wird außerdem schon ab Mitte 2014 wirksam und könnte damit der SPD Wahlstimmen für 2017 sichern. Aus sozialer wie strategischer Sicht ist es deshalb sinnvoll.

Gegen die langfristig drohenden Probleme einer bis in die Mittelschicht verbreiteten Altersarmut können solche Maßnahmen jedoch wenig ausrichten. Um größere Gerechtigkeit zu schaffen und Armut zu vermeiden, müsste dem Abschied von Bismarck- die Hinwendung zu Beveridge-Prinzipien folgen: Es müsste eine gesetzliche Mindestrente eingeführt werden und Betriebsrenten müssten für Arbeitgeber verpflichtend sein. Je näher die von den Reformen der Regierung Schröder Betroffenen dem Ruhestand kommen, desto stärker wird der Druck für solche umfassenden Reformen werden.

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