St. Petersburg in Zeiten der Ukraine-Krise: Russische Sorgen

Eine Off-Theater-Gruppe kämpft ums Überleben, dann wurde das Malaysia-Airlines-Flugzeug abgschossen. Ein Besuch in St. Petersburg.

In St. Petersburg diskutieren die Menschen über Revolutionsromantik unter den Westlinken und Geschichtsvergessenheit in Russland. Bild: ap

„Ihr seid doch Deutsche, ich habe auch Deutsch gelernt.“ Zwei Männer um die 30 suchen Kontakt zum Nachbartisch. „Was macht ihr hier?“, fragt einer und setzt seinen Bierkrug an. Es ist gewiss nicht das erste Bier, das er an diesem Nachmittag trinkt. „Gutten Takk!“, sagt er auf Deutsch und beginnt sich zu ärgern, dass man am Tisch neben ihm nicht auf ihn reagiert.

„Stören Sie uns bitte nicht! Wir haben etwas zu besprechen“, sagt Sergei Mardar. Er ist Schauspieler in der St. Petersburger Off-Truppe Teatr Pokolenij und sitzt mit Eberhard Köhler, dem deutschen Regisseur, sowie etlichen anderen an der aktuellen Produktion der Gruppe Beteiligten während einer Probenpause in einem Restaurant.

Ganz ruhig wiederholt er, noch einmal: „Bitte stören Sie uns nicht!“ Da erheben sich die beiden, halten ihre Bierkrüge in die Höhe und rufen: „Auf das ruhmreiche Russland!“ Dann leeren sie ihre Bierseidel, recken die Arme zum Hitlergruß in die Höhe und verlassen das Lokal.

„Krim-ist-unser“-Parolen

„Da siehst du es, das sind die Leute, die heute das Sagen haben.“ Danila Karagodski mag sich gar nicht beruhigen über die Suffköppe. Er ist die Seele der Theatergruppe. Der künstlerische Leiter des Teatr Pokolenij, der an der University of California in Long Beach Professor für Bühnenbild ist, will sich einfach nicht damit abfinden, was da gerade in seinem Land passiert. Dumm, primitiv, faschistisch – diese Vokabeln benutzt er, wenn er über das immer irrwitzigere Auftreten Russlands spricht.

„Wie kann man nur?“, fragt er sich, wenn er über die omnipräsente „Die-Krim-ist-unser“-Parole spricht. Er leidet, wenn er die Nachrichten im Fernsehen anschaut. Doch er bleibt seinem Russland treu. Er hat eine Mission. Er möchte das Erbe seines Vaters Sinowi Karagodski bewahren.

Der war einer der großen Patriarchen des Theaters der Sowjetunion, immer umgeben von den wichtigsten Intellektuellen und Künstlern seiner Zeit. Sein Ruhm als Regisseur des Petersburger Jugendtheaters wirkt bis heute nach. 1990 hat er das Teatr Pokolenij, zu Deutsch „Generationentheater“, gegründet. Er hat junge Menschen die Schauspielkunst gelehrt.

Bis heute spielen etliche Schauspieler in der Gruppe, die von Sinowi Karagodski ausgebildet wurden. Bis heute, zehn Jahre nach dem Tod des großen Regisseurs, wissen junge Menschen, die sich für die Bühne interessieren, dass man beim Teatr Pokolenij viel lernen kann. Seit dem Tod des Vaters widmet sich Sohn Danila dem Projekt. Sooft es ihm möglich ist, reist er nach St. Petersburg.

Legendäre Theatergruppe

Er erzählt, wie die Kulturschaffenden einst seinem Vater an den Lippen hingen und ihn überallhin folgten. „Wenn er über die Straße ging, liefen ihm immer jede Menge Verehrer nach.“ Wer sieht, wie ihm die Schauspieler folgen, wenn er dozierend auf der Probebühne auf und ab geht, kann sich vorstellen, wie das seinerzeit ausgesehen haben mag. Danila Karagodski scheint die Autorität seines Vaters geerbt zu haben.

In seiner Truppe wird er verehrt, nicht nur weil er es ist, der beinahe alles, was er nicht zum Leben braucht in sein Theater steckt. „Ich soll CD-Rohlinge kaufen“, sagt eine Schauspielerin, und Karagodski zückt sein Portemonnaie. Sein Geld ist auch gefragt, wenn wieder einmal nicht genug für die Miete eingespielt werden kann. 2.500 Euro sind jeden Monat für die Bühne in einem schäbigen Hinterhof auf der Petrograder Seite fällig – ohne Nebenkosten.

Das Projekt, an dem die Gruppe in diesen Tagen arbeitet, wird zum größten Teil von Kulturstiftungen aus der Schweiz finanziert. Das Teatr Pokolenij kooperiert dabei mit zwei Theatern aus Bern und den Schweizer SchriftstellerInnen Ariane von Graffenried und Matto Kämpf. „Alle Vögel sind schon da“ heißt das Stück, das gerade erarbeitet wird.

Vier Wochen waren die Autorinnen nebst zwei Schweizer Schauspielerinnen und dem Komponisten Simon Ho in St. Petersburg, um unter der Regie von Eberhard Köhler gemeinsam mit dem russischen Ensemble eine erste Annäherung an das Stück zu erarbeiten. Darin geht es um die historische Zimmerwalder Konferenz und um die Bedeutung, die sie in der Schweiz und in Russland heute noch hat.

Vorbild Zimmerwalder Konferenz

Das Treffen von 38 europäischen Sozialisten fand 1915 in Zimmerwald, einem Kaff unweit von Bern, statt und markierte den Beginn der endgültigen Spaltung von Reformisten und Revolutionären. Letztere scharten sich in Zimmerwald um Wladimir Lenin, der seinerzeit im Exil in der Schweiz lebte.

Der wird im Stück regelrecht demontiert, zur Karikatur. Artjom Schilow gehören die Lacher bei der Premiere. Mit seinem ausrasierten Haarkranz und dem Lenin-Bärtchen, das er sich hat stehen lassen, sieht er den im ehemaligen Leningrad omnipräsenten Denkmälern des Revolutionärs so ähnlich, als seien sie nach seinem Vorbild gegossen worden.

Nach den Vorstellungen wird ihm von den Nichtrussen in der Produktion eine große Karriere als Lenin-Parodist vorhergesagt. Doch er winkt ab. Dafür gebe es in Russland keine Nachfrage. Nach der letzten Vorstellung rasiert er sich. Er will auf gar keinen Fall als Lenin durch die Stadt gehen.

Während die russischen Schauspieler nach den Proben schnell nach Hause gehen, diskutieren die Westler darüber, warum die Lenin-Statuen immer noch nicht von den Sockeln gerissen wurden, über Revolutionsromantik unter den Westlinken und Geschichtsvergessenheit in Russland.

Man ist sich sicher, dass die russischen Schauspieler nicht darüber diskutieren. Dass sie in diesem Moment nicht mit am Tisch sitzen, hat einen einfachen Grund. Kneipenbesuche können sie sich nicht leisten. Das Kennenlernen in der Koproduktion ist zunächst nicht mehr als ein zurückhaltendes Beschnuppern. Die Politik spielt nur eine Nebenrolle, so als wolle man gar nicht wissen, was die anderen denken. Es könnte ja mit dem eigenen Weltbild kollidieren.

Gaunersprache auf der Bühne verboten

Danila Korogodski ist der Grenzgänger dieser Koproduktion. Er, der sich die Kneipenabende leisten kann, scheut keine politische Diskussion. Er will auch keine Witze machen über die immer absurder werdenden Regelungen, die auch ihn als Theatermacher betreffen. „Fuck!“, sagt er nicht selten, und er kann gar nicht lachen, als im Scherz gefragt wird, ob solche Wörter in Russland auf der Bühne überhaupt verwendet werden dürfen.

In der Tat gibt es ein neues Gesetz, das die Verwendung der harten, russischen Gaunersprache auf der Bühne unter Strafe stellt. „Das ist so absurd“, sagt Karagodski. „Die russische Literatur besteht zu 50 Prozent aus Gaunersprache.“ Im Stück soll eine Schweizer Schauspielerin die verbotenen Wörter sprechen.

Nach dem Crash ist die Politik allgegenwärtig

Dann der Crash. Die Politik ist in St. Petersburg am Tag nach dem Absturz des malaysischen Passagierflugzeugs über der Ostukraine für ein paar Stunden allgegenwärtig. Den radikalsten Unterstützern der prorussischen Kämpfer in der Ukraine scheint die Putin’sche TV-Propaganda zu lasch geworden zu sein.

Sie kleben in der ganzen Stadt Infozettel, die für Internetauftritte der Separatisten werben (lugansk-online.info; icorpus.ru). „Erfahre die Wahrheit!“, steht darüber. Viele dieser Miniplakate werden schnell wieder von den Wänden gerissen. Bald hängt neben den Zetteln, auf denen für eine Stunde mit Lena oder Natalja geworben wird, keine politische Botschaft mehr.

Am Tag nach dem Katastrophe im Donbass sind die Proben unruhig. Zwei der Schauspieler schauen unentwegt auf ihre Smartphones. Sie stammen aus der Ukraine und wollen wissen, was passiert in ihrem Herkunftsland. Sie werden als Paar inszeniert. Schnell kommt die Idee auf, die beiden gemeinsam ein ukrainisches Friedenslied singen zu lassen. Kitsch? Ganz ruhig wird es im Publikum an dieser Stelle bei den Aufführungen.

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