US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin: Hedy Epstein, immer im Dienst
Hedy Epstein ist dem Holocaust entkommen. Seither kämpft sie gegen „schlimme Dinge“. Zuletzt wurde sie in Ferguson in Handschellen abgeführt.
ST. LOUIS taz | „Das ist meine Dienstuniform“, sagt die alte Dame lachend und zupft an ihrem schwarzen T-Shirt. „Stay Human“ steht darauf in großen weißen Buchstaben. Sie hat es bei vielen Demonstrationen getragen. Auch am 18. August, bei dem Sit-in vor dem Eingang zum Amtssitz des Gouverneurs von Missouri, wo die Teilnehmer den sofortigen Abzug der Soldaten der Nationalgarde aus Ferguson verlangen und den heranrückenden Polizisten zurufen: „Wem dient ihr? Wen schützt Ihr?“
Wenig später wird sie von zwei Polizistinnen abgeführt, die sie beide um einen Kopf überragen. Ihr hölzerner Gehstock baumelt zwischen der Plastikfessel auf ihrem Rücken, die so fest zugezogen ist, dass sie am nächsten Tag blaue Flecken an den Handgelenken haben wird. Sie ist zu konzentriert, um mitzukriegen, dass ihr die Umstehenden applaudieren. Die Nachrichtenagenturen melden: „90-jährige Holocaust-Überlebende bei Protesten gegen Polizeigewalt in Ferguson in Handschellen abgeführt“.
Hedy Epstein hat am 15. August bei sich in St. Louis ihren runden Geburtstag gefeiert. Als die letzten Gäste abgereist sind und Freunde fragen, ob sie zum Wainwright-Gebäude mitkommen will, wo der Gouverneur ein Büro hat, zögert sie keinen Moment. Die Stadt ist seit 53 Jahren ihr Zuhause. Das Thema ist ihr wichtig. Und sie hat Erfahrung mit gewaltfreiem Widerstand.
„Gewundert hat es mich nicht“, sagt sie über den Ausbruch von Wut, der auf die tödlichen Schüsse eines weißen Polizisten auf einen unbewaffneten schwarzen Teenager in Ferguson gefolgt ist. „Wenn man Leute unterdrückt und ihnen nicht dieselben Chancen gibt, kommt es irgendwann zu einer Explosion.“
Erste Beobachtungen
Von ihrer Hochparterrewohnung in einem Backsteinhaus in St. Louis aus ist die Vorstadt Ferguson eine knappe halbe Autostunde entfernt. Den toten Michael Brown hat sie nicht gekannt. Aber das Misstrauen und die Vorurteile gegen Afroamerikaner gehören zu den ersten Dingen, die sie beobachtet hat, als sie 1948 in das Land kam, das ihre neue Heimat werden sollte.
Sie ist eine staatenlose, einsame junge Frau. Die einzige Überlebende der Familie Wachenheimer aus Kippenheim am Schwarzwald. Ihre Eltern haben sie, als 14-Jährige, im Mai 1939 mit einem der letzten „Kindertransporte“ nach England geschickt. Im Jahr nach der Umarmung auf dem Bahnsteig werden die Mutter und der Vater deportiert, wie alle anderen in Deutschland zurückgebliebenen Mitglieder der Familie. Ihre Spuren verlieren sich in Auschwitz.
Als Hedy Epstein, 24-jährig, in New York eintrifft, führt eine Kollegin die junge Frau in ihre neue Stelle bei einer Flüchtlingshilfsorganisation ein. Die New Yorkerin ist freundlich, aber reserviert. Ein gemeinsames Mittagessen lehnt sie kategorisch ab. Nach mehreren Tagen liefert sie die Erklärung: „Sie wissen doch, dass Schwarze nicht dieselben Restaurants wie Sie besuchen können.“ Hedy Epstein bleibt mit einer Verstörung zurück, die bis heute nachwirkt.
„Der Rassismus sitzt tief“
66 Jahre später steht sie in ihrer „Dienstuniform“ zwischen Basilikum, Thymian und Geranien auf ihrem Balkon in St. Louis. Ihre Fenster sind die einzigen in der Straße, in denen Poster mit einer politischen Botschaft hängen: gegen Krieg. „Der Rassismus“, sagt Epstein, „sitzt tief in den Gedanken und Gefühlen der Weißen hier – er ist Mentalität.“
Die Holocaust-Überlebende Hedy Epstein weiß, dass möglicherweise derselbe Polizist, der im Vorbeigehen freundlich „Guten Tag“ zu der alten, weißen Dame sagt, in den schwarzen Jugendlichen an der nächsten Straßenkreuzung potenzielle Kriminelle sieht. In ihrer Kindheit ist sie selbst als „dreckige Jüdin“ beschimpft und am Tag nach der Kristallnacht von der Schule geworfen worden. Und sie hat die Angst erlebt, wenn auf der Straße ein besonders übler Nazi auf sie zukam. Aber den Rassismus zwischen Weiß und Schwarz hat sie erst in den USA kennengelernt: „Das gab es in Kippenheim nicht.“ Schon bald nach ihrer Ankunft wird sie Mitglied in zwei afroamerikanischen Bürgerrechtsgruppen, die für gleiche Rechte eintreten, NAACP und Urban League.
Damals trifft sie eine Entscheidung, die ihr Leben durchziehen wird: Wenn sie „schlimme Sachen“ sieht, wird sie nicht untätig bleiben – „das würde mich mitschuldig machen“. Hedy Epstein wird eine der wenigen Weißen, die sich für Bürgerrechte von Schwarzen engagieren. Eine Linke im konservativen Bundesstaat Missouri, wohin sie mit ihrem Mann zieht, die für das Recht auf Abtreibung und für die Aufnahme von haitianischen Flüchtlingen kämpft. Und eine Jüdin, die israelische Gewalt gegen Palästinenser bekämpft.
Redeverbote
Anfeindungen begleiten sie seither. Die schärfste Kritik kommt aus der jüdischen Gemeinschaft. Hedy Epstein hält Vorträge über ihre Kindheit in Nazideutschland. Sie ist eine beliebte Zeitzeugin. Sie kann den Einzug der Nazis in ihren Kinderalltag in Kippenheim so anschaulich beschreiben, dass die Zuhörer das Gefühl haben, dabei zu sein. Aber als sie beginnt, Israel öffentlich zu kritisieren, in Missouri eine Zweigstelle der „Women in Black“ gründet und ab 2004 zu Solidaritätsaktionen ins Westjordanland reist und mehrfach vergeblich versucht, nach Gaza zu gelangen, wird an das Holocaust-Museum in St. Louis herangetragen, ihren Namen von der Rednerliste zu streichen.
Museumskurator Dan Reich lehnt das Ansinnen ab. Er nennt sein Museum einen „Ort der Toleranz“, und er sorgt dafür, dass Hedy Epstein weiterhin sprechen darf. Aber sie muss sich thematisch auf ihre „Holocaust-Erfahrung“ beschränken.
Wenn Hedy Epstein mit ihrem öffentlichen Engagement vonihrer Holocaust-Erfahrung abweicht, werden die Anfeindungen gegen sie heftig. Nach ihrer Festnahme in Ferguson erscheinen Leserbriefe, die behaupten, sie stünde im Holocaust-Museum auf dem Index. Und sie sei eine „fake Holocaust-Überlebende“. Es kommt noch schärfer: Als sie Ende August einen Brief von mehreren hundert Holocaust-Überlebenden und Nachfahren unterzeichnet, der die „Massaker an Palästinensern in Gaza“ sowie die „fortwährende Besatzung und Kolonisierung Palästinas“ kritisiert. „Genozide beginnen mit dem Schweigen der Welt“, steht in dem offenen Brief des internationalen jüdischen antizionistischen Netzwerks. „Leider ist sie dem Verbrennungsofen entkommen“, steht in manchen Leserkommentaren.
Hedy Epstein ist in zahlreichen Friedensgruppen aktiv - darunter die Jewish Voice for Peace. Aber sie wohnt allein. Anrufe und E-Mails beantwortet sie selbst. Wenn es Hassbotschaften sind, reagiert sie nicht. Auf eine Debatte über die Hamas lässt sie sich nicht ein. „Israelis und Palästinenser müssen einen Weg finden, um in Frieden neben- und miteinander zu leben“, sagt sie allenfalls. Oder, zu den jüngsten Hinrichtungen in Gaza: „Ich bin gegen jede Gewalt.“
Sie hat das Gefühl von Hass und Wut in sich selbst erlebt. Bei ihrer ersten Reise nach Deutschland, kurz nach Kriegsende, betteln Kinder auf einem deutschen Bahnhof die aus England zurückkehrenden Flüchtlinge an. Als Mitreisende den Kindern Schokolade schenken, reagiert Hedy Epstein wütend: „Das sind Nazis.“ In den folgenden drei Jahren arbeitet sie für die USA in Deutschland. Als Dokumentaristin für die Anklage im Nürnberger Ärzteprozess erfährt sie von den medizinischen Experimenten an Häftlingen. Und sie sitzt im Gerichtssaal, als die Ärztin aus dem Konzentrationslager Ravensbrück, Herta Oberheuser, sich für die Experimente rechtfertigt: „Es waren Polinnen. Sie würden sowieso bald sterben.“
Jahre später ist Hedy Epstein in den USA im Widerstand gegen den Vietnamkrieg aktiv. Plötzlich fällt ihr auf, dass sie Petitionen schreiben und demonstrieren kann, ohne dabei Gefängnis zu riskieren. Das ist für sie ein Schlüsselmoment. „Hätten Deutsche so etwas im Zweiten Weltkrieg getan, hätten sie ihr Leben riskiert“, sagt sie sich. „Damit war der Hass weg.“
Antizionistische Eltern
2004 gerät die 79-Jährige auf der Rückreise von der Westbank auf dem Flughafen Ben Gurion in eine Wut, die sie nicht kontrollieren kann. Sie wird in einen abgetrennten Raum geführt, muss sich komplett ausziehen und eine tiefe Leibesvisitation – „vorne und hinten“ – über sich ergehen lassen. „Sie sind eine Terroristin“, wird ihr zur Begründung gesagt: „ein Sicherheitsrisiko.“ Als Hedy Epstein endlich im Flugzeug zurück in die USA sitzt, schwört sie sich, „nie wieder“ nach Israel zu reisen. Sie macht eine Therapie, um ihre Wut zu überwinden.Und reist schon im selben Sommer wieder nach Israel.
Ihre Überzeugungen, ihr inneres Fundament, führt sie auf Mutter und Vater zurück. „Wir sind Antizionisten“, sagt sie als kleines Mädchen Mitte der 30er Jahre der Großmutter in Kippenheim . Sie weiß nicht, was das bedeutet, sie hat es bei den Eltern aufgeschnappt. Die Großmutter antwortet ängstlich: „Psst.“ Hedy Epstein denkt viel an ihre Eltern. „Ich wäre froh, wenn ich am Ende vor meinen Eltern stehen könnte, und sie würden mir sagen: Das hast du gut gemacht.“
Die zweite Inspiration, die sie fürs Leben prägt, kommt aus England. Eine Zeit, über die sie sonst nicht gern spricht: „Ich war unglücklich dort, ich habe meine Eltern wahnsinnig vermisst.“ Aber sie stößt auf eine Gruppe junger Leute, die sich darauf vorbereiten, Deutschland nach dem Krieg zur Demokratie zu erziehen. Hedy Epstein erhält bei der „Free German Youth“ – von der die 90-Jährige sagt, dass sie etwas ganz anderes war als die FDJ in der späteren DDR – ihre politische Erziehung. Lernt: Faschismus und Sozialismus und Kapitalismus. „Ich war 16 und ich habe alles wie ein Schwamm aufgenommen.“
Mehr als sieben Jahrzehnte später führt ihre Erzählung behände von Kippenheim über St. Louis nach Gaza. Von den 30er Jahren in das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts. Dabei klingt Hedy Epsteins Deutsch so flüssig, als hätte sie nicht mit 14 aufgehört, es im Alltag zu sprechen. Ihr Ausstrahlung ist auch dann positiv, wenn sie über Trauriges spricht. Wie den Tod des jungen Italieners, von dem das Motto auf ihrer „Dienstuniform“ stammt. Vittorio Arrigoni wurde 2011 von palästinensischen Extremisten in Gaza ermordet.
Als der Gouverneur von Missouri kurz nach dem Sit-in entscheidet, die Nationalgarde aus Ferguson abzuziehen, sieht Hedy Epstein das als kleinen Erfolg. Ohne Druck, glaubt sie, „wäre das nicht passiert“.
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