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„Der Staat hat bisweilen die Nerven verloren“

Der frühere Bundesinnenminister Gerhart Baum befürwortet die Haftentlassung der RAF-Gefangenen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar

taz: Herr Baum, ist eine Begnadigung der letzten vier RAF-Gefangenen sinnvoll?

Gerhart Baum: Aktuell sind die Fälle Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Und bei beiden befürworte ich eine Entlassung aus der Haft, obwohl beide mehrfach Morde – also schwere Straftaten – begangen haben.

Warum sollten sie freikommen?

Erstens: Es ist eine gute Praxis des deutschen Rechtssystems, auch Straftäter, die eine lebenslängliche oder mehrfach lebenslängliche Strafe erhalten haben nicht ein ganzes Leben lang im Gefängnis sitzen zu lassen. Ein Rechtsstaat wie der unsere sollte nach seinem Selbstverständnis zwar Menschen angemessen bestrafen, aber er sollte ihnen die Chance geben, in die Gesellschaft zurückzukehren. Zweitens gehe ich davon aus, dass die Täter inzwischen nicht mehr gefährlich sind und Distanz zu ihrer Taten gewonnen haben. Sie rechtfertigen diese auch nicht mehr.

Die letzten RAF-Häftlinge sagen nicht zu den letzten fünf unaufgeklärten Morden aus – obwohl sie womöglich etwas darüber wussten. Ist das nicht ein Zeichen mangelnder Reue?

Es wäre wichtig, etwas über diese Morde zu erfahren. Wir wissen aber nicht genau, ob die Inhaftierten etwas über die Taten von damals wissen und verschweigen. Aus solchen Unwägbarkeiten den Vorwurf mangelnder Reue zu konstruieren, wäre falsch. Im Übrigen ist Strafhaft keine Beugehaft, um eine Aussage zu erzwingen. Sie bezieht sich auf die individuelle Schuld.

Birgit Hogefeld sagt, heute erscheine ihr die Zeit, als die RAF glaubte, gegen einen neuen deutschen Faschismus kämpfen zu müssen, als surreal. Wie sehen Sie diese Zeit?

Die Taten geschahen damals in einem zeitgeschichtlichen Kontext, der aufgewühlten Jahre der Außerparlamentarischen Opposition und der bis heute wichtigen linken Reformbewegungen. Die RAF war als eine kleine Tätergruppe das radikalisierte Zerfallsprodukt der linken Protestbewegung, die Deutschland auf einem fatalen Weg sah. Sie waren getrieben von einem unerträglichen moralischen Rigorismus. Ohne diesen Hintergrund sind die damaligen Ereignisse nicht zu verstehen.

Haben Sie als Exbundesinnenminister Verständnis für diese Taten?

Nein, die sind natürlich durch nichts zu entschuldigen – auch nicht durch die gesellschaftlichen Umstände. Aber wenn man die RAF und das, was ihre Mitglieder antrieb, verstehen will, muss man die Hintergründe der damaligen Zeit berücksichtigen. Und man muss auch sehen, dass der Staat bisweilen die Nerven verloren und überreagiert hat. Damit hat er Öl ins Feuer geschüttet.

Das Ziel des Strafvollzugs ist die Wiedereingliederung von Gefangenen in die Gesellschaft. Glauben Sie, das ist bei Klar und Mohnhaupt möglich?

Es ist bei allen Häftlingen schwer, aber nicht unmöglich. Man muss ihnen die Chance geben. Natürlich werden sie mit dieser Zeit immer verbunden bleiben. Ihre Taten werden sie ihr Leben lang beschäftigen. Aber die Beispiele von Peter-Jürgen Boock und Klaus Jünschke zeigen, dass ehemalige Terroristen sogar sehr fruchtbar für die gesellschaftliche Auseinandersetzung sein können.

Wird nach der Freilassung der letzten vier das Kapitel RAF abgeschlossen sein?

Nein, das hat die lebhafte Diskussion um die RAF-Ausstellung in Berlin gezeigt. Das Thema ist gerade auch für jüngere Menschen von großem Interesse. Ich nenne nur die Sammelbände, die Kraushaar zur RAF und zum linken Protest herausgegeben hat. Im Herbst dieses Jahres jährt sich die Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Martin Schleyer zum 30. Mal. Ich sage voraus, dass wir uns gerade 2007 noch sehr intensiv mit diesem Thema auseinandersetzen werden. INTERVIEW: DANIEL SCHULZ

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