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Abschied vom Rostkreuz

Seit mehr als 100 Jahren rostet der Bahnhof Ostkreuz vor sich hin. Jetzt nimmt sich die Bahn seiner an. Sie will in zehn Jahren einen Neubau mit Rolltreppen und Aufzügen eröffnen. Die Bauplaner stellen sich auf ein Abenteuer ein. Denn im Bahnhof liegt so manches Kabel, das keiner mehr kennt

VON ULRICH SCHULTE

Am Ostkreuz umzusteigen, ist meist eine surreale Erfahrung. Wer hier auf die S-Bahn wartet, kann den Eisenträgern beim Rosten zusehen, dem Unkraut zwischen den Gleisen beim Sprießen und den Bodenplatten beim Verrutschen. Die Baufälligkeit der 1882 eröffneten Station an Ring- und Stadtbahn, die manche Berliner „Rostkreuz“ nennen, ist inzwischen legendär – die gescheiterten Sanierungsanläufe der Bahn auch.

Die unendlich scheinende Leidensgeschichte des maroden Bahnhofs und ungezählter S-Bahn-Kunden hat bald ein Ende, denn das Ostkreuz soll wiederauferstehen. „Es wird langsam Zeit“, sagt Lothar Legler, Niederlassungsleiter Ost der DB ProjektBau. „Wir nähern uns Schritt für Schritt der Versagensgrenze.“ Die Bahn hat sich viel vorgenommen. Im Fall Ostkreuz von einer Sanierung zu sprechen, wäre eine Untertreibung ohnegleichen. Es geht um einen kompletten Neubau, den die Bahn in zehn Jahren, also 2017, in Betrieb nehmen will.

Dessen Bedeutung belegen die Eckdaten der Planung. Der Bau wird 411 Millionen Euro kosten; dass es teurer wird, ist nach Erfahrungen mit der Bauherrin Bahn so gut wie sicher. Das Ostkreuz spielt also nur eine Liga unter dem Renommierprojekt Hauptbahnhof. 400 Züge im Fern- und Regionalverkehr werden jeden Tag Reisende auf die überdachten Bahnsteige entlassen, dazu kommen 1.000 S-Bahn-Züge.

Ein Ort zum Reißaus nehmen

Das Ostkreuz ist kein Ort zum Verweilen. Wer heute durch die zugigen Gänge über ausgetretene Stufen eilt, nimmt vor der Tristesse Reißaus. Auch nach dem Umbau wird das Ostkreuz ein Umsteigebahnhof bleiben. Die Bahn hat sich, ganz anders als gewohnt, noch keinerlei Gedanken gemacht, wo wie viele Läden in den Bahnhof einziehen sollen. Rund 123.000 Menschen werden ihn täglich nutzen, davon sind rund zwei Drittel Umsteiger, nur ein Drittel steigen ein oder aus. Das Ostkreuz ist schließlich der zentrale Verteiler im Osten der Stadt, hier kreuzt der S-Bahnring die Stadtbahn mit ihrem Ost-West-Verkehr.

Das Ostkreuz genießt unter Eisenbahnfans Kultstatus. Im Internet dokumentieren sie seine Geschichte und zeigen Fotos: Der alte Wasserturm im Sonnenuntergang. Die Kynastbrücke. Alte Lautsprecher. Doch die Station ist längst zum Relikt geworden, die ihrer Verteilerfunktion mehr schlecht als recht nachkommt – und die für ihre Nutzer eine Zumutung ist. Rollstuhlfahrer oder Eltern mit Kinderwagen meiden ihn: Es gibt viele Betontreppen, aber keinen einzigen Aufzug. Im neuen Bahnhof werden 10 Aufzüge und 15 Rolltreppen zu allen Bahnsteigen für mehr Komfort sorgen, verspricht Sven-Erik Baer, der Projektleiter Planung.

In den lichten Hallen des Kreuzungsbahnhofs wird sich ein Phänomen dann hoffentlich erledigt haben: das Verirren eiliger S-Bahn-Kunden. Bisher gleicht das Finden des richtigen Bahnsteiges einem Lottospiel, denn es herrscht das, was Fachleute „Linienbetrieb“ nennen. Die Züge der S 3, die zwischen Erkner und dem Ostbahnhof verkehren, halten auf einem Bahnsteig. Will heißen: Links fährt die Bahn stadtein-, rechts stadtauswärts. Das gleiche Spiel findet mit der S 5 einen Bahnsteig weiter statt. „Die Umstellung auf einen Richtungsbetrieb wird große Vorteile für die Kunden bringen“, sagt S-Bahn-Baubetriebsmanager Christian Morgenroth. Wie an anderen Bahnhöfen auch werden nach der Neueröffnung die Züge aller Linien in Richtung Stadt auf einem Bahnsteig abfahren, ebenso in die Gegenrichtung.

Bis es so weit ist, muss sich die Bahn auf manches Abenteuer einstellen. Zum einen der Bau selbst. In den über 100 Jahren seiner Lebenszeit ist der Bahnhof gewuchert wie ein Unkraut. Manche Weiche, mancher Träger findet sich in keinem Plan mehr. Ein Beispiel: In einem ersten Schritt würden jetzt sämtliche Kabel geortet und neu verlegt, sagt Matthias Künsting, der für die Bauausführung zuständige Projektleiter. „Nichts ist schlimmer, als wenn ein Bagger in die Erde greift und die Stromversorgung der S-Bahn erwischt.“ Allein für die Kabelschau plant die Bahn sechs Millionen Euro ein. Die Bäume, die früher romantisch zwischen den Gleisen wucherten, hat die Bahn bereits gerodet.

Viele Unwägbarkeiten beim Bau

Doch nicht nur wegen solcher Unwägbarkeiten ist der Öffnungstermin 2017 nicht fix. Der Stromkonzern Vattenfall und der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg haben vor dem Bundesverwaltungsgericht geklagt. Dabei geht es nicht um den Bahnhofsbau an sich, sondern um die Verlegung eines Starkstromkabels – also ein eher unwichtiges Detail. Auch von einem Anwohner liegt eine Klage vor. Eins ist sicher: Der Bau dauert. Und wer neben dem Ostkreuz wohnt, muss sich in den nächsten Jahren auf eine lärmende Baustelle einstellen. Und wer die Station als Fahrgast nutzt, muss jahrelange Behinderungen in Kauf nehmen. „Wir haben das Ziel, nur am Wochenende S-Bahn-Strecken zu sperren“, sagt Morgenroth. Allerdings seien auch Beeinträchtigungen des Berufsverkehrs möglich.

Der Neubau wird also eine Geduldsprobe für alle Beteiligten. Und er wird mit lieb gewonnenen Erscheinungen aufräumen. Auf dem breiten Mosaikpflaster-Bahnsteig verkauft ein Händler Gemüse, am Ausgang gibt’s noch Original-Ketwurst, die ostdeutsche Version des Hotdog. Im neuen Bahnhof, das steht zu fürchten, werden sich Le-Crobag-Shops breitmachen.

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