: Ein Hundeleben für ein Abonnement
Das Drückermilieu ist ein schwer zu lichtendes Gestrüpp von Abhängigkeiten, das viele in die Verzweiflung stürzt und wenige profitieren läßt. Heute beginnt der Prozeß um die brutalen Morde an zwei Drückern im letzten Jahr ■ Von Hilmar Höhn
Als Thorsten Mumm sich in einem Wald bei Olpe sein Grab geschaufelt hatte, glaubt er immer noch an einen üblen Scherz. Der 21jährige hat nackt mit einem Spaten die Grube ausgehoben. Am Ende fragt ihn seine kaum ältere Peinigerin: „Glaubst du, daß du jetzt stirbst?“ Er glaubt es nicht. Deborah Ott sticht dreimal zu. Mumm röchelt noch. Da nimmt die Frau einen Spaten und sticht in Richtung Kopf.
Das war am 24. Juli vergangenen Jahres. Zwei Monate später tötet Deborah Ott noch einmal. Ihr Opfer: Volkmar Granz, Kopf einer Zeitungswerberkolonne. Der 46jährige Aalener hatte seiner Ex- Verlobten die Tür aufgemacht, da streckt sie ihn mit drei Schüssen nieder. Schließlich durchtrennt Deborah Ott ihm auch noch die Kehle, wie befohlen.
Wie befohlen. Deborah Ott war Mitglied einer Drückerkolonne. Beide Morde, sagt die geständige Frau, seien von ihrer Chefin Petra Falb angeordnet worden. Mumm habe sterben müssen, weil er keinen Umsatz gemacht habe. Dem Konkurrenten Granz neideten die Frauen seine Werber. Ott wurde am 30. September in Gummersbach festgenommen, Petra Falb in Frankfurt. Weil Ott gestand, ging es mit der Anklage schnell. Am heutigen Mittwoch beginnt vor dem Landgericht Ellwangen der Prozeß gegen die beiden Frauen.
Abrechnung im Drückermillieu. Zwei Morde sorgen dafür, daß sich die Justiz für eine Branche zu interessieren beginnt, die alles andere als sauber ist. Und die es am liebsten hat, wenn Stille um sie herrscht.
André Leutsch wollte nach zwei Jahren Klinkenputzen aussteigen. Der junge Mann hatte es satt, zu klingeln und seinen Spruch aufzusagen vom Schüler, der sich ein paar Mark verdiene mit dem Verkauf und dem Verteilen von Zeitungen und Zeitschriften. Daß nichts von alldem stimmt – von der Echtheit der Abonnementbestellungen abgesehen –, das hätte ihn damals nicht gestört, sagt André Leutsch nun über zwei Jahre später in einem Freiburger Café. Er schaut unsicher. Er raucht. Er ist nervös. Ein blasser Junge, nicht groß und nicht klein. Er spricht leise und zurückhaltend. Daß er noch fünf Geschwister hat. Daß es verdammt eng zugegangen sei, daheim im badischen Bad Bellingen, wohin seine Familie kurz nach der Maueröffnung gezogen war.
Zwei Lehren hatte er schon abgebrochen, da las er eine Anzeige in der örtlichen Zeitung, erinnert er sich: „Mitfahrer gesucht. Gute Verdienstmöglichkeiten.“ Ein Herr Emmerich, den er unter der angegebenen Telefonnummer anruft, erzählt ihm, das Unternehmen liefere Zeitschriften aus. Er könne gleich am nächsten Tag anfangen. Und als wäre es ganz normal, packt der 17jährige André Leutsch am 3. Dezember 1995 eine Reisetasche und besteigt einen Zug nach Nürnberg.
Zwei Tage zieht er mit erfahrenen Drückern um die Häuser. Dann will er selbst verkaufen. Und es klappt auch. „Zwei Scheine am ersten Tag“, da leuchten noch heute seine blaßblauen Augen. „Da war ich bei allen gut Freund.“ Doch das Glück ist von kurzer Dauer. „Vierzehn Tage nichts.“ Einmal gibt es Schläge. Rausschmeißen wollten sie ihn. Da tritt Horst Rigott auf den Plan, Anfang 30, ein alter Hase. In Rigott findet André Leutsch einen väterlichen Freund. Der Junge glaubt, ihm vertrauen zu können. „Ich war bald sein bester Mann.“ Aber Rigott mißbraucht sein Vertrauen. Weil er Österreicher sei, dürfe er bei deutschen Versandhäusern nichts bestellen, erklärt er dem Jungen. Und der bestellt für Rigott einen Fernseher, eine Satellitenanlage und schließt für seinen Chef einen Vertrag mit einer Mobiltelefongesellschaft ab. Rigott dagegen behält einen großen Teil der Einnahmen von André ein. Die Begründung: „Irgendwann könnte ich das Geld gebrauchen, für ein Moped oder um den Führerschein zu machen“, erinnert sich Leutsch.
Doch der notorische Pleitier Rigott verpraßt die Kohle. Er denkt nicht daran, für den Fernseher zu bezahlen oder die Rechnungen für das Handy zu begleichen. Das schlägt auf die Stimmung. André Leutsch schreibt weniger Scheine. Rigott macht Druck. Von den fünf-, sechshundert Mark, die auf Leutschs Abrechnung pro Woche zusammenkommen, bleibt kaum etwas übrig. Die Übernachtungen in schäbigen Hotels summieren sich, Kunden stornieren ihre Abonnements, Leutsch muß mehr arbeiten, bis in die Nacht. Ein Hoffnungsschimmer kommt auf, als die ganze Kolonne in einer Nacht-und-Nebel-Aktion vom Verlagsservice Ranke und Co. zum Herbert Lüderitz Zeitschriftenvertrieb wechselt. Rigott verspricht bessere Konditionen. Kurze Zeit verdienen die Drücker wieder etwas Geld. Dann, in der nächsten Flaute, fährt die Gruppe in einem Lüderitz-Bus nach München und steigt dort in einen Firmenwagen des Alpha Pressevertriebs um. Nicht gerade die feine Tour, seinen Arbeitgeber zu wechseln. „Aber wir hatten keine Wahl“, sagt Leutsch.
Jetzt ist er seit zwei Monaten raus aus der Kolonne, er hat einen neuen Job. Und eine kleine Wohnung nahe bei den Eltern. Beim Gedanken an die nächtlichen Wechsel der Auftraggeber knetet er seine Hände: „War auch eine aufregende Zeit.“ Doch er war maßlos abhängig von Rigott: keine Krankenversicherung, angemeldet auf den Firmensitz einer Drückerfirma ohne eigene Wohnung, hoch verschuldet. „Übers Ohr gehauen“ fühlt er sich heute. Wie einen Leibeigenen habe man ihn behandelt. Immer sei Rigott auf den Touren aufgetaucht, habe rumgeschnüffelt, ob er auch überall geklingelt habe.
„Viele hielten den Druck nicht aus und sind abgehauen“, erinnert sich André Leutsch. Er blieb bis zum Februar 1998. Nach zwei Jahren aber hatte selbst dieser stille, geduldige André Leutsch genug. Die Kolonne war bei Offenburg einquartiert, von da ist es nicht mehr weit ins heimische Bad Bellingen. Und Rigott heuerte einen Gorilla an, „um die Abrechnung zu machen“. Da setzte sich André Leutsch flugs ab. Ohne Geld. Ohne Papiere.
„Kein Einzelfall“, sagt Roland Knüppel. Knüppel ist Leiter der Bahnhofsmission in Mannheim. Und hat sich dadurch einen Namen gemacht, daß er mittlerweile 400 Leuten aus der Drückerszene beim Ausstieg half und auf ihr unwürdiges Leben aufmerksam macht. Die Bahnhofsmission auf Gleis 1 liegt am Ende des Bahnsteigs. Der Eingang zu den Missionsräumen ist ein enger, dunkler Gang. Wer hier rein will, der muß wissen, wieso. Das hat sich auch Roland Knüppel gedacht, als er 1990 die Station übernommen hatte und sich zu fragen begann, woher diese vielen Gestrandeten kamen. Also hat er sie gefragt. „Ganz einfach: Da waren viele Drücker drunter.“ Ohne Geld und ohne Papiere. Knüppel gibt ihnen Fahrkarten für die Fahrt nach Hause. Und wenn es keine Familie gibt, dann hilft er, eine Wohnung zu finden und Arbeit.
Aus den Berichten, die die Aussteiger in oft unbeholfenem Deutsch zu Papier bringen, geht hervor, daß der junge André Leutsch noch ein Quentchen Glück hatte. Schlimmer traf es etwa Maik Kulitzke [Name geändert], der mit dem Marschbefehl, sechs Abonnements pro Tag zu verkaufen, losgeschickt wurde. „Hatte man diese sechs nicht“, schreibt er in seinem Bericht, „mußte man nach Feierabend Schulung machen. Später setzte es dann Schläge, Geld wurde nicht ausbezahlt, von den Kollegen war keine Hilfe zu erwarten. Jeder war nur auf seinen Vorteil aus.“ Worüber sich der Kirchenmann Knüppel aber noch mehr aufregt, das sind die Verlage, die sich im Hintergrund halten und von der Arbeit der mies behandelten Drücker profitieren. Hinter Kulitzke und Leutsch und den anderen 3.000 Drückern, die mit Spiegel, Focus oder dem Echo der Frau für einen Hungerlohn Klinken putzen gehen, gibt es eine Hierarchie der Profiteure. Die beginnt bei Leuten wie Horst Rigott, die die Bezahlung nach Gusto handhaben und dabei als ehemalige Drücker oft selbst pleite sind. Ihnen übergeordnet sind Organisationsleiter, die mehrere Kolonnen überwachen. Die Organisationsleiter sind Mitarbeiter von Firmen wie dem Verlagsservice Ranke oder dem Alpha Pressevertrieb, beide in München ansässig. Bei den Großen der Branche sitzen dann schon die Besserverdiener. Franz Dorschner, Chef des Alpha Pressevertriebs, einnert sich André Leutsch, sei zur Weihnachtsfeier für seine 900 Drücker im vergangenen Jahr im standesgemäßen, knallgelben Porsche vorgefahren.
Bis aus einem „Schein“ ein Abonnement wird, braucht es noch Vermittlungseinrichtungen. Das sind Firmen wie die Neue Verlagsgesellschaft (NVG) in Schutterwald bei Offenburg, die Abonnementvertriebsgesellschaft (AVG) in Hamburg oder die Pressevertriebszentrale (PVZ) in Stockelsdorf bei Lübeck. An diese Einrichtungen werden die neuen Abonnements gemeldet und zu schönen digitalen Datensätzen zusammengestellt, welche die Verlage direkt in ihre Computer einspielen können. Was bei Verlagsmanagern wie Bernd Meyer von Gruner + Jahr das wohlige Gefühl erzeugt, in einer „Black box“ zu sitzen: Denn die Bezugsadressen kommen schließlich aus fernen Rechenzentren, und es lasse sich nicht überprüfen, wann und wie der Vertrag zustande gekommen sei. Ein Satz, so intelligent wie die Behauptung, der Strom komme aus der Steckdose.
Andere Verlagskaufleute weisen die Zusammenarbeit mit Drückerkolonnen ganz weit von sich. Beim feinen Reisemagazin Merian kann sich die Pressesprecherin „nicht vorstellen, daß wir mit solchen Leuten zusammenarbeiten“. Eine Dame aus der Burda-Kommunikationsabteilung kommuniziert, ihr Haus sei für eine Stellungnahme nicht zu haben. Und bei der Süddeutschen Zeitung räumt man zwar ein, daß Ranke, Alpha und Co. Abos der SZ verkaufen. „Aber wir wollen nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden.“ „Würden Sie auf das Geschäft verzichten?“ fragt ein Herr aus einem anderen Verlagshaus.
In der Tat, es locken gute Geschäfte. Über die weiß Werner Pientka Bescheid. Pientka, Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Abonnementwerbung, kurz AGA, beziffert den jährlichen Umsatz der Werber auf 700 Millionen Mark. Und er will nicht an die Gruselgeschichten glauben, die über die Mitglieder seines Verbandes die Runde machen. Das sei eine lautere Branche, sagt er, mit ganz klaren Statuten.
Aber wen sollte Pientka auch für üble Praktiken haftbar machen? Kleine Drücker? Kolonnenführer? Organisationsleiter? Werbefirmen? Die weitverzweigte Branche ist die organisierte Verantwortungslosigkeit. Ein System, in dem Abhängigkeiten gezüchtet werden, Menschen abstürzen oder fliehen, ein menschenverachtendes System, in dem – im Extremfall – auch Morde wie die an Thorsten Mumm und Volkmar Granz passieren.
Manchmal scheint auch die Bosse der große Zweifel zu überkommen. Wie etwa Franz Dorschner, den Chef des Alpha Pressevertriebs. Der sich von dem findigen Werbemann Ulrich Kuhl eine neue Verkaufsstrategie „im Stile der Zeit und nahe bei der Wahrheit“ erarbeiten ließ. Nach Kuhls Argumentationshilfe sollen sich Drücker als neue Selbsthilfemaßnahme gegen die Arbeitslosigkeit anpreisen. Noch aber sei das seit einem Jahr vorliegende Papier nicht im Einsatz. Die Branche ist eben konservativ. „Dabei“, bedauert Kuhl, „wollen wir endlich ein ehrliches Geschäft machen.“
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