: „Jetzt kommt es faustdick“
Die extremen Auswirkungen von BSE und MKS auf die deutsche Lederschwulenszene
Der Besucher bemerkt es gleich. In „Toms Bar“ herrscht eine extrem aggressive Stimmung. Die Laune der Hochglanzkerle scheint ihren Tiefpunkt erreicht zu haben. In einer Ecke bricht grundlos Streit aus, und die Lederfetzen fliegen. Da ist es gut, dass man als Milieufremder eine kompetente und kräftige Begleitung an der Seite hat.
Die deutsche Lederschwulenszene ist zutiefst verunsichert. Grund sind die Nachschubprobleme beim Leder: Die Lederwarenindustrie liefert keine Hosen, Westen oder Kappen mehr. Durch den Ausbruch von BSE und MKS werden kaum noch Häute von Rindern verarbeitet, mindestens 200.000 Felle fehlen derzeit, heißt es in einer Pressemitteilung.
„Jetzt kommt es faustdick“, meint Rainer Feldkamp, der Vorsitzende des Bundesverbandes der Lederschwulen (BVLS). Auf seinem Büroschreibtisch in der Berliner Motzstraße stapeln sich die besorgten Anfragen von Mitgliedern, wie es weitergehen solle. Feldkamp macht der Lederwarenindustrie schwere Vorwürfe, sie würde die Bedürfnisse einer Minderheit absichtlich vernachlässigen. Die Lederschwulen ständen auf den Lieferlisten ganz unten. „Wir spüren das in allen Bereichen. Gute Lederknuten werden knapp“, schüttelt Feldkamp empört den Kopf, so dass die in beide Kinnbartstränge eingeflochtenen Perlen wütend gegeneinander klickern. Hinternfreie Lederschürzen etwa würden schon kaum mehr hergestellt. „Obwohl die doch am wenigsten Haut brauchen“, lacht Feldkamp sarkastisch und streicht mit seinen behaarten Händen behutsam über die weiche Nappaweste.
Erstmals seien die Auswirkungen der Krise beim „Lederfest 2001“ Ostern in Berlin drastisch zu erkennen gewesen. Augenzeugenberichten zufolge sollen sich erschreckende Szenen abgespielt haben. In einigen Dark Rooms sei es zu gewalttätigen Übergriffen nicht etwa auf die willigen Sklaven, sondern auf Vollledermonturenträger gekommen. Grund sei der um sich greifende Neid auf die wenigen Privilegierten mit Beziehungen zur Industrie. Auch habe eine Fist-Nacht wegen eines Sklavenaufstands abgebrochen werden müssen, nachdem mehrere devote Männer erkannten, dass ihnen die Kleidung nicht aus purer Lust, sondern aus Besitzgier vom Leib gerissen worden sei.
Betritt man derzeit ein traditionelles Schwulenviertel, muss man kaum genauer hinschauen, um das Ausmaß der Lederkrise wahrzunehmen: Rund um den Berliner Nollendorfplatz laufen viele Lederschwule in zerschlissener Kleidung herum. Die Preise für Lederhosen und -westen sind in den Läden explodiert. Viele großformatige Schilder versprechen günstige Angebote, ein schwunghafter Handel mit Second-Hand-Ware beherrscht die Straße. Erste Hardcore-Schwule weichen schon auf minderwertige Produkte aus, ja tragen Langhaarfellhosen im Flokati-Stil. „Aber Leder ist eben Leder“, betont BVLS-Chef Feldkamp. Plastik sei da kein Ersatz. In Magazinen wie Siegessäule oder Sergej werden denn auch hitzige Debatten geführt, die über reine Trend- und Modediskussionen hinausführen. Traditionalisten wollen das klassische schwarze Glanz-Outfit nicht aufgeben, Neuerer erwarten von einer Umorientierung bei der Kleidung Impulse für die gesamte Szene.
Einige Lederschwule planten sogar, eine eigene Landkommune mit einem Hautverwertungsbetrieb zu gründen, damit künftig Engpässe umgangen werden können, erklärt Feldkamp: „Morgens Farmer, abends Fucker“, freut sich der BVLS-Vorsitzende über den zukunftsweisenden Szenezweig. Es gibt also doch noch ein Fünkchen Hoffnung, dass die österliche Wahl zum „Mister Leder 2001“ nicht die letzte war. MICHAEL RINGEL
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