Der hungernde Patient

„Wir können die tollsten Therapien durchführen. Aber ob jemand was Vernünftiges zu essen bekommt, das interessiert die wenigsten“

VON SOLVEIG WRIGHT

Nur noch 29,5 Kilo wog die bettlägerige Frau, als ihre Betreuerin die Heimleitung wegen Vernachlässigung angezeigt hat. Gegen den Pflegedienstleiter und den Arzt des Düsseldorfer Altenheims, wo die Frau lag, wird seit April ermittelt. Aber einen Prozess will die Staatsanwaltschaft nicht anstrengen. „Die Frau kam schon so abgemagert im Altenheim an und wollte einfach nicht essen“, sagte Oberstaatsanwalt Heinz Bremer. Zwar seien die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen, aber anscheinend liege gegen die Verantwortlichen nichts Strafbares vor.

So extrem der Fall klingt – eine Ausnahme ist er nicht. Viele alte Menschen sind unterernährt. Bei einer Studie an zwei Berliner Kliniken stellte die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin fest, dass fast jeder vierte Patient unterernährt war, als er ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Obwohl auch jüngere Menschen teilweise nicht richtig essen, zeigte die Studie aber, dass der Anteil der Mangelernährten bei der Gruppe der über 70-Jährigen im Vergleich zu Jüngeren doppelt so hoch ist. Die meisten Mangelernährten sind alt. Alt und allein.

Soziale Isolierung, zusammen mit Alter und eventuellen Krankheiten, ist der größte Risikofaktor für Unterernährung in Deutschland. Ob ein Unterernährter reich oder arm ist, gebildet oder Analphabet, spielt keine Rolle. Es hungert, wer nicht mehr für sich sorgen kann – egal ob derjenige daheim wohnt, im Krankenhaus liegt oder im Pflegeheim lebt. Und selbst wenn klar ist, dass die Menschen nicht mehr für sich sorgen können, bekommen die meisten nur sporadisch Hilfe. Für viele besteht die Unterstützung darin, dass sie daheim leben und regelmäßig von einem Pfleger besucht werden. Die Pfleger haben vorher mit dem Patienten abgesprochen, welche Hilfe sie leisten und für welche Unterstützung der Pflegebedürftige zahlt. Darauf beschränkt sich der Beistand dann.

Die Menschen, die sich am wenigsten um sich selbst kümmern können, sind die Demenzkranken. Denn selbst wenn sie körperlich fit sind, sind sie nicht mehr autonom. Dennoch ist Demenz kein Einstufungskriterium für die Pflegeversicherung: Wer verwirrt ist, aber mobil, bekommt kein Geld. Wenn ein Demenzkranker nicht mehr essen will, es einfach vergisst oder gefüttert werden muss, kann die Hilfe schnell teuer werden.

„Wir versuchen natürlich in den Beratungsgesprächen auf diese Zusammenhänge hinzuweisen“, sagt Bernd Tews vom Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste. „Aber wenn jemand die Pflege nicht haben oder zahlen will, dann können wir keine Zwangsbeglückung durchführen. Der Patient ist ja mündig.“ Dies gelte es auch bei einer Demenz anzunehmen, zumal auch Demente einen eigenen Willen haben, der respektiert werden müsse.

Wenn die Mitarbeiter merken, dass die Pflege nicht ausreicht, könnten sie nicht mehr tun, als darauf hinzuweisen. „Meist können die Angehörigen mithelfen.“ Nur im Extremfall kann ein Entmündigungsverfahren eingeleitet werden. In diesem Fall muss nachgewiesen werden, dass der Mensch eine Gefahr für sich oder andere darstellt. Doch mit Mangelerscheinung allein kann man leben, ohne aufzufallen.

Aber wenn es so weit ist, dass jemand ins Krankenhaus kommt, sollte man doch erwarten, dass ihm bei Mangelernährung geholfen wird. Aber das Gewicht der eingelieferten Patienten wird im normalen Betrieb nicht erfasst, Unterernährung nicht festgestellt. Außerdem ist das Krankenhaus nicht darin geübt, Leute aufzupäppeln. Der Ernährungsmediziner Christian Löser vom Rotkreuz-Krankenhaus in Kassel kritisiert das Verhältnis der Ärzte zum Essen. „Wir können die tollsten Therapien durchführen. Aber ob jemand was Vernünftiges und ausreichend zu essen bekommt, das interessiert die wenigsten.“

In der Ausbildung der Ärzte sei dieser Punkt vernachlässigt – Ernährung werde nicht als Teil der Medizin gesehen. Dabei haben Studien bewiesen, dass ein Mensch, der vernünftig isst, schneller gesund wird. Menschen im Krankenhaus essen aber sehr oft schlecht. Studien in Skandinavien und England haben gezeigt, dass drei von vier Menschen im Krankenhaus deutlich abnehmen. „Das liegt aber nicht nur an den bösen Pflegern“, stellt Christian Löser klar. Das Personal habe nicht ausreichend Zeit, sich um die Menschen zu kümmern. „Gerade bei alten Menschen kann es ja sein, dass sie Hilfe beim Essen brauchen, oder man muss sie überreden zu essen. Wann soll eine Krankenschwester das machen?“ So kommt es dazu, dass Angehörige die Patienten füttern, während die Krankenschwester sie im Vorbeieilen dafür lobt.

Marc Hünten klärt für den Bundesverband deutscher Ernährungsmediziner über Mangelernährung auf. „Viele Menschen werden in den Krankenhäusern nicht richtig behandelt, weil das Problem nicht erkannt wird“, sagt er. Das Krankenhausessen sei auch oft nicht ausgewogen: zu viel Salz, zu wenig Jod. Außerdem werde zwar ausreichend Nahrung angeboten, allerdings essen Menschen oft nur die Hälfte. „Vitaminmangel ist aber ein langfristiges Problem, da macht der Krankenhausaufenthalt weder etwas kaputt, noch kann er da Abhilfe schaffen.“

Eine Person, die die Rundumpflege in einem Pflegeheim bezahlt, steht aber nicht notwendigerweise besser da. Bei einer nicht repräsentativen Studie des Medizinischen Dienstes der Spitzenverbände der Krankenkassen (MDS) kam heraus, dass es bei 43 Prozent der untersuchten Pflegeheimbewohner Probleme bei der Versorgung mit Lebensmitteln gab. Und das, obwohl die Untersuchungen zur Studie angekündigt waren, wie der Sozialarbeiter und Pflegekritiker Claus Fussek betont.

Claus Fussek kämpft schon lange für gute Pflegeheime. Er veranstaltet Stammtische und hält dort Referate, reist herum und spricht mit Betroffenen und Pflegern. Immer dabei hat er das Bild einer Frau, die ihr Essen serviert bekommt, während sie auf einem Nachtstuhl sitzt. „Und da frage ich Sie: Würden Sie dann essen?“ Gerade das Problem der angenehmen Atmosphäre sei nicht zu unterschätzen.

Dazu kommt, dass alte Menschen oft wenig Appetit haben. Der Geschmack verändert sich, bei Pflegeheimen kommt die ungewohnte Umgebung dazu. Mangelnde Bewegung kann auch den Spaß am Essen mindern und führt außerdem dazu, dass ein Hungergefühl gar nicht erst entsteht. „Menschen mit Demenz brauchen Zuspruch und Ermunterung, damit sie essen“, erklärt Fussek. Inzwischen gibt es Freiwillige, die ehrenamtlich in Pflegeheimen bei der Essensverteilung helfen.

Schlecht versorgt sind Menschen auch dann, wenn ihre Zähne nicht richtig gepflegt sind. Viel zu oft komme es vor, dass Menschen wegen Zahnweh nicht essen können, keinen Zahnarzt konsultieren und sich vielleicht auch nicht mitteilen können. Pflege ist auch bei den Zähnen teuer. Fussek reagiert pikiert auf die Feststellung, dass alles seinen Preis habe: „Es kann doch nicht sein, dass wir unsere Alten hungern lassen!“

Außerdem sei es keineswegs so, dass angemessene Ernährung und Profitabilität nicht vereinbar seien. In einem Pflegeheim in Augsburg, so habe er gehört, werde um die Zuteilung von Mineralwasser gefeilscht. In derselben Stadt betreibt ein börsennotiertes Unternehmen ein Pflegeheim, wo alle Getränke kostenlos sind. „Die Menschen zahlen um die 3.000 Euro für ihren Pflegeheimplatz, da muss eine ordentliche Verpflegung drin sein!“ Dazu gehöre die Hilfe beim Essen.

Mängel in der Ernährung sind ein Gesundheitsrisiko. Viele Senioren leiden an Eiweißmangel. Damit steigt die Gefahr, dass sie sich wund liegen. Der so genannte Decubitus ist eine der schlimmsten Erkrankungen für Alte. Die Druckstellen lassen den Körper am lebendigen Leib verwesen. Wenn die schwärenden Wunden einmal da sind, heilen sie nur schlecht. Ihre Entstehung zu vermeiden, hat für Pfleger Priorität.

Die Lösung für das Ernährungsproblem klingt banal. Experten empfehlen, sich mehr Mühe mit dem Essen zu geben. Wenn es lecker aussehe, sei schon viel gewonnen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) versucht in einem Ringbuch für Menschen, die in der Pflege arbeiten, auf Mangelernährung aufmerksam zu machen. Ein Hinweis an die Pflegekräfte ist, sich nicht abwertend über das Essen zu äußern. Außerdem solle darauf Rücksicht genommen werden, was die Patienten gern essen und wann sie Hunger haben.

„Am besten ist, wenn das Pflegeheim seinen eigenen Koch hat“, schlägt der Sozialarbeiter Fussek vor. Der stehe dann auch im direkten Kontakt mit den Heimbewohnern und könne sich auf sie einrichten. Im angelsächsischen Raum kümmern sich Diät-Teams um Kranke in der Klinik. Mit den Patienten wird ein Ernährungsplan erarbeitet, der die Krankheit berücksichtigt und der auf die Präferenzen des Patienten eingeht. Darüber hinaus müssen sich die Pfleger einfach mehr Zeit nehmen.

Der Ernährungsmediziner Christian Löser erwartet, dass sich in Krankenhäusern bald etwas bessert. „Inzwischen haben Studien bewiesen, dass Menschen, die besser essen, schneller genesen.“ Da die Krankenhäuser pro Diagnose und Patient nur noch einen Pauschalbetrag bekommen, haben sie ein Interesse daran, die Patienten so schnell wie möglich nach Hause zu schicken. Da nun bewiesen ist, dass man das auch mit dem Essen erreicht, ist klar: Vernünftiges Essen spart Geld. „Es ist zwar nicht schön, betriebswirtschaftlich zu argumentieren,“ sagt Löser, „aber wenn es hilft, machen wir auch das.“