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Niemand entkommt dem Seveso-Gift

Das Umweltministerium von Baden-Württemberg hat eine Bestandsaufnahme der Dioxin-Belastung vorgelegt: Der amtliche Grenzwert kann heute nicht mehr eingehalten werden  ■ Von Niklaus Hablützel

Berlin (taz) – Wo die Fässer aus dem Unglücksort Seveso geblieben sind, ist noch immer nicht geklärt. Die Frage ist unwichtig geworden, denn die Supergifte der Dioxin-Klasse sind heute überall zu finden. Die baden-württembergische Landesanstalt für Umweltschutz in Karlsruhe hat Bodenproben aus 1275 Standorten des Landes untersucht, keine einzige war völlig frei von den Giften, die als Nebenprodukt in den meisten Prozessen der Chlorchemie, aber auch aus dem Kaminfeuerchen in der Wohnstube entstehen – Gartenerde, die mit Kamin- und Grillfeuerasche gedüngt wurde, wies zum Teil Dioxinkonzentrationen auf, die mit industriellen Altlasten vergleichbar sind.

Noch sind die landwirtschaftlich genutzten Flächen Baden-Württembergs relativ sauber, die durchschnittliche Konzentration liegt bei einem Nanogramm pro Kilogramm Erde – das ist eine Zahl mit neun Nullen hinter dem Komma. Sie beweist vor allem, wie sehr sich die Analysemethoden seit dem Unfall in Seveso verfeinert haben. Es ist möglich geworden, die Stoffe in extrem geringen Mengen nachzuweisen – in eben jenen minimalen Konzentrationen, in denen sie schon gefährlich sind. Ein Molekül, das sich in einer Körperzelle einlagert, genügt, um dort Krebswachstum auszulösen.

Gesundheits- und Umweltamt des Bundes haben sich trotzdem auf einen Grenzwert geeinigt: Keinem erwachsenen Mann mit normalen Ernährungsgewohnheiten, so lautet die Maßregel, dürfe zugemutet werden, mehr als ein Pikogramm des internationalen Toxizitätsäquivalents für Dioxine und Furane pro Tag und Kilogramm Körpergewicht aufzunehmen. Gesunde wie krebskranke Laien, Schwangere und Kinder können sich die Mühe sparen, das Fachchinesisch zu verstehen. Denn niemand kann sich tatsächlich vor Dioxin-Folgekrankheiten schützen. Der amtliche Grenzwert sagt lediglich aus, daß die Bevölkerung von Industrienationen eine gewisse Verkürzung ihrer Lebenserwartung hinzunehmen habe.

Aber auch dieser willkürliche Wert kann heute nicht mehr eingehalten werden, zumindest nicht im Musterländle Baden-Württemberg. Das Stuttgarter Umweltminiterium schließt aus den Befunden seiner Untersuchung, daß „erwachsene Bundesbürger“ etwa das Doppelte des Erlaubten aufnehmen. Der Schaden ist in der Zeit der heute lebenden Generation nicht mehr reparierbar. Dioxine sind äußerst schwer abbaubar und reichern sich über die Nahrungskette im Fettgewebe des menschlichen (und tierischen) Körpers an. Baden Württembergs Umweltminister Schäfer hat, als er gestern seine Studie der Presse vorstellte, ein sogenanntes „Dioxinminderungsprogramm angekündigt. Der Sozialdemokrat will wenigstens versuchen, die weiter wachsende Verbreitung der Supergifte zu bremsen. Die Kosten sind enorm. Schon die bloße Voruntersuchung von etwa 7.500 „Anlagen, die als Dioxinemittenten in Frage kommen“, so das Ministerium, hat bisher 1,8 Millionen Mark verschlungen. In einem zweiten Schritt sollen „etwa 1.000 Anlagen“ überprüft werden, die sich als besonders gefährlich erwiesen haben. Das sind vor allem Betriebe, die mit chlororganischen Stoffen umgehen. Amtliche Grenzwerte, die für die Sanierung eine rechtliche Handhabe böten, existieren nur für Müllverbrennunganlagen, die höchstens 0,1 Nanogramm Dioxin- Äquivalente pro Kubikmeter Luft aus dem Kamin blasen dürfen.

Aber auch die Autos ziehen eine Dioxinfahne hinter sich her. Noch zehn Meter neben vielbefahrenen Straßen läßt sich das Gift im Ackerboden nachweisen. Schon 17.000 Fahrzeuge pro Tag machen einen 2,5 Meter breiten Randstreifen für die Landwirtschaft unbrauchbar. Und auch der kranke Wald kommt nicht ungeschoren davon: Die Bäume kämmen das Gift aus der Luft. Waldböden erreichen deshalb Dioxinkonzentrationen, die weit über dem für landwirtschaftliche Nutzflächen erlaubten Wert liegen.

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