: „Man gibt sich den Anschein, etwas zu tun“
■ Für den Bremer Soziologen Wolfgang Hien haben die Krebsregister keine Aussagekraft
Der Medizinsoziologe Wolfgang Hien arbeitet am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. Er beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Krebs in der Arbeitswelt. Vor kurzem ist sein Buch „Chemische Industrie und Krebs“, Band 14 in der Schriftenreihe Gesundheit, Arbeit, Medizin des Wirtschaftsverlages, erschienen.
taz: Die Bundesregierung will den Ländern eine flächendeckende Krebsregistrierung zur Pflicht machen. Das Ziel heißt: Krebsbekämpfung. Ist es möglich, mit einem derartigen Register Krebs zu bekämpfen?
Wolfgang Hien: Ich möchte das als symbolische Politik bezeichnen. Man gibt sich den Anschein, etwas zu tun, ohne an den Ursachen etwas zu verändern. Krebsregister sind einfach nur Datensammlungen, die noch gar nichts über Ursachen aussagen.
Die Befürworter der Registrierung halten dagegen, daß diese Datensammlungen für die epidemiologische Forschung unerläßlich seien.
Anders als Laborversuche liefern epidemiologische Studien sehr breit gestreute, sehr unklare Daten. Diese Unklarheiten kann man ausnutzen, um verschiedene Hypothesen zu belegen. Dabei spielen politische und soziale Interessen eine sehr große Rolle. Alles, was an Menschen ganz nah dran ist, also ihre Genetik, ihre familiäre Geschichte, ihre Lebensgewohnheiten, ob sie rauchen oder trinken – all das kann man ausnutzen, um ihnen zu sagen: Ihr seid selbst das Risiko. Ihr seid Risikoträger. Andere Faktoren, etwa die berufliche Geschichte eines Menschen oder die Geschichte seines Wohnumfeldes, werden nicht erforscht. Diese Daten sind im Register nicht drin und epidemiologisch nur schwer erforschbar.
Trotzdem fordern auch Bürgerinitiativen Register, um sich damit gegen krankmachende Lebensbedingungen zur Wehr zu setzen.
Ich stehe seit Jahren in Diskussion mit vielen Betroffenengruppen und Bürgerinitiativen, die immer wieder solche Register fordern, weil sie glauben, daß sogenannte Krebsnester zu entdecken sind. Es existiert die Vorstellung, daß zum Beispiel in einem bestimmten Stadtteil die Krebsrate doppelt so hoch sei wie woanders; diese Vorstellung stimmt aber nicht. Denn erstens sind die Unterschiede nicht so deutlich, weil es viele Überlagerungen gibt und Personen nie als Gruppe so dauerhaft in einem Ort oder Stadtteil wohnen. Zudem können sich Krankheiten wie Krebs in ganz verschiedenen Formen ausdrücken. Zweitens wissen viele Betroffene nicht, wie Register gemacht und mit welchem Datenmaterial diese Register gefüllt sind.
Wie aussagekräftig sind die Daten denn?
Das hängt davon ab, wie genau der Arzt fragt, etwa: „Sind Sie vierzig Jahre im Stahlwerk?“ Oder genauer: „Waren Sie gegenüber Asbest exponiert?“ Schon eine so diferenzierte Frage ist kaum zu erwarten. Deswegen ist die Tätigkeitsanamnese eigentlich schon ein Begriff, der falsche Tatsachen vorspiegelt. Denn in Wirklichkeit ist es nur ein Abfragen des derzeitigen Berufes. Das sagt aber nichts aus.
Welche Alternativen gibt es?
Ich stelle mir vor, daß es eine für Betroffene durchschaubare und deswegen kontrollierbare und beeinflußbare Erhebung in kleinem Rahmen gibt: in den Stadtteilen, in den Betrieben, in den Problemfeldern um Atomkraftwerke herum. Hat man beispielsweise eine bestimmte Gruppe von Krebserkrankten, würde man mit ihnen gemeinsam ihre Belastungsgeschichte zusammentragen, wie ein Puzzle, fast detektivisch, um dann mit ihnen mögliche Ursachen ihrer Krankheit herauszuarbeiten. Wichtig ist für die Betroffenen zu verstehen, warum sie so krank sind.
Flächendeckende Register sollen aber auch dazu dienen, die künftige medizinische Versorgung zu planen.
Ich könnte mir vorstellen, daß interessierte Kreise, wie die Pharmaindustrie, versuchen, auf Basis der Krebsregistrierungspolitik durchzusetzen, daß bestimmte diagnostische Programme breiter angewandt und sogenannte Vorsorgeprogramme immer stärker für den einzelnen Bürger zur Pflicht gemacht werden. Ich könnte mir vorstellen, daß die Krankenversicherungsträger bestimmte Programme nicht nur anbieten, sondern verpflichtend machen. Zwang zur Gesundheit – in diese Richtung läuft diese ganze Politik. Ohne daß an den Verhältnissen, die Menschen in letzter Instanz krank machen, etwas geändert würde. Interview: Ute Bertrand
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