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„Carlos“ schweigt und wartet ab

Um den Topterroristen „Carlos“ ist es still geworden. Zwei Jahre nach seiner Entführung aus dem Sudan bastelt die Justiz in Frankreich noch immer an der Anklage, mit mäßigem Erfolg  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

„Topterrorist gefangen“, lautete heute vor zwei Jahren die Hauptschlagzeile des Tages. Nach jahrzehntelanger Fahndung war Ilich Ramirez Sánchez, alias „Carlos“, in Khartum bei einer Schönheitsoperation überrascht und unter mysteriösen Umständen nach Frankreich transportiert worden, wo ihn ein Haftbefehl erwartete. Unter anderem wurden ihm Bombenattentate und Geiselnahmen in Paris, Marseille, Berlin und auf der Opec- Konferenz in Wien vorgeworfen.

Frankreichs prominentester Anti-Terror-Richter Jean-Louis Bruguière brach seinen Sommerurlaub ab, um den Neuankömmling umgehend zu verhören. Der skandalträchtigste Anwalt des Landes, der einstige Kommunist Jacques Vergès, übernahm die Verteidigung. Und die Überlebenden zahlreicher Terroranschläge der 80er Jahre erhofften sich Aufklärung.

Zwei Jahre danach ist es still geworden um den inzwischen 46jährigen „Topterroristen“. Die Blockadetechnik des Inhaftierten selbst und seiner zeitweise über zwanzig Anwälte trägt Früchte. Die Ermittlungen schleppen sich dahin. Die Dossiers über die vier nichtverjährten Anschläge in Frankreich, die Carlos vorgeworfen werden — die Bombe vom März 1982 in dem Zug Paris–Toulose (5 Tote); die Bombe vom April 1982 vor der arabischsprachigen Zeitung Al Watan in Paris (1 Toter), die Bombe von Silvester 1983 auf den Zug Paris–Marseille (3 Tote) und die Bombe vom selben Tag am Marseiller Bahnhof (2 Tote) —, sind noch nicht annähernd vollständig. Teilweise waren sie bereits vernichtet und mußten nach Carlos' Verhaftung in mühsamer Kleinarbeit wieder zusammengestellt werden. „Bis zu einer Prozeßeröffnung können Jahre vergehen“, verlautet resigniert aus der Anti-Terror-Abteilung der Pariser Staatsanwaltschaft.

Einzig in einer Angelegenheit, deretwegen Carlos bereits 1992 in Abwesenheit verurteilt worden war, zeichnet sich Bewegung ab: „Schon“ zum Jahresbeginn 1997 kann nach Ansicht der Pariser Justiz der Prozeß wegen eines doppelten Polizisten- und einfachen Komplizenmordes aus dem Jahr 1975 neu aufgerollt werden. Wenn das Urteil bestätigt wird, bleibt Carlos lebenslänglich hinter Gittern.

Carlos selbst schweigt und läßt die Zeit und andere für sich arbeiten. Seine auch nach dem Ausscheiden von Vergès hohen Anwaltskosten wurden teilweise von dem Schweizer Nazi François Genoud getragen. Vor seinem Selbstmord letzten Mai hatte Genoud den „Topterroristen“ noch in dessen Zelle besucht. Zwar hat die Europäische Menschenrechtskommission Carlos' Klage wegen seiner „Entführung“ aus dem Sudan abgewiesen, doch läuft jetzt ein ähnliches Verfahren vor der französischen Justiz. In Kolumbien planen seine Freunde unterdessen eine Entführung des französischen Botschafters. Nach Erkenntnissen des venezolanischen Geheimdienstes spekulierten sie auf einen Austausch des Botschafters gegen den prominenten Gefangenen.

Auf aussagebereite Personen aus dem Umfeld von Carlos hofften die französischen Untersuchungsrichter bislang vergeblich. Interessant wäre für sie Carlos' Gefährtin Magdalena Kopp, die einst wegen Waffenbesitzes in französischen Gefängnissen saß und Ende vergangenen Jahres von Venezuela nach Deutschland zurückgekehrt ist. Interessant wäre auch Carlos' einstiger „Vize“, der Schweizer Bruno Breguet, dessen Angehörige behaupten, er sei kürzlich in einer koordinierten Aktion des griechischen und französischen Geheimdienstes aus Griechenland in das ehemalige Jugoslawien entführt worden. Neue Erkenntnisse erhoffen sich die Pariser Richter auch aus dem Berliner Verfahren gegen Johannes Weinrich, dem deutschen Carlos-Mitarbeiter.

Hinderlich für die Anti-Terror- Abteilung ist jedoch auch ihre chronische Arbeitsüberlastung. Die vier Untersuchungsrichter befassen sich von Korsika über islamischen Integrismus bis hin zum Baskenland mit allem, was in Frankreich als „heiß“ gilt. Jeder der vier Richter hat gegenwärtig 40 bis 50 Dossiers auf dem Tisch. Das Dossier des einstigen Topterroristen Carlos wird wohl noch länger auf den Tischen der französischen Justiz liegen.

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