Von Greenhorns zu Profis

Der Wahlkampf 1996 bringt den US-Grünen die Wende. Die Präsidentschaftskandidatur diszipliniert die Partei: Organising statt Debatten  ■ Aus Los Angeles Reed Stillwater

Ort der Handlung: „Horizon Hall“ auf dem Campus der University of California in Los Angeles. Die Fensterfront nimmt die ganze Stirnwand des Saals ein und gibt den Blick auf den rosenfarbenen westlichen Abendhimmel frei, gegen den sich die rosafarbene Backstein-Kirche im Renaissance- Stil abhebt. In der Mitte ein Podium. Das Stück, das hier gegeben wird: Der Parteitag der US-amerikanischen Grünen, auf dem am heutigen Montag Ralph Nader zum Präsidentschaftskandidaten nominiert werden soll.

Der Taxifahrer auf der Herfahrt hatte zweifelnd geguckt. Grüne? Ja, wirklich, es gibt in den USA eine grüne Partei, eine Partei für Umweltschutz, und sie wird Ralph Nader zum Präsidentschaftskandidaten ernennen. Donnerwetter! Von den Grünen hat er noch nie gehört, Nader aber ist ihm ein Begriff. Der Anwalt der Konsumenten und Kritiker der Industrie hat einen guten Ruf. Die meisten US- Amerikaner wissen, wer er ist, und wissen nicht zuletzt durch ihn, daß die Großindustrie und das große Geld nicht nur die Konsumenten bescheißen, sondern Washington regieren, daß die Wahlkämpfe der Parteien und Kandidaten von ihnen finanziert werden und daß ein käuflicher Kongreß nach ihrer Pfeife tanzt. Das System US-amerikanischer Wahlkampffinanzierung ist eine höhere Form der Korruption. Nicht einmal Ross Perot kann diese Botschaft so überzeugend und so glaubwürdig, so schneidend und so faktenreich verkünden wie Ralph Nader. Und der gehört zu einer Partei?!

In der „Horizon Hall“ fehlt die Hauptperson. Der Redner des Abends ist nicht da. Man kennt das von den Parteitagen der Republikaner und Demokraten: Der Kandidat kommt erst am letzten Abend. Seinem Auftritt geht ein Ritual voraus, zu der die sogenannte „Keynote Address“ gehört, jene Rede, die die Parteigänger einschwört, mitreißt und die Botschaft ins Land hinaus trägt.

Den Hauptredner am Flughafen vergessen

David Brower sollte sie halten, der 84jährige Veteran der Umweltschutzbewegung. Wegen seiner Kompromißlosigkeit war Brower aus dem Sierra Club, der stärksten US-Umweltschutzorganisation, ausgeschlossen worden – einst war er der Vorsitzende gewesen. Die Botschaft, die Brower den US- Grünen hatte bringen wollen, lautete: „Ronald Clinton“ ist für die Umwelt schlimmer, als Bush es war. Doch jene, zu denen er sprechen wollte, hatten vergessen, ihn abzuholen. Nachdem Brower zwei Stunden am Flughafen gewartet hatte, flog er nach Hause.

Statt dessen redet gegen den dunklen Abendhimmel jetzt Jimi Castillo, spiritueller Führer der Tungva, jenes Volks, daß vor Ankunft der Weißen in den Bergen um und in der Strandebene von Los Angeles lebte. Nein, lebt!, korrigiert sich Castillo unter Applaus. Er spricht von den Gräbern seiner Ahnen, auf denen jetzt ein Einkaufszentrum errichtet wird, über eine Deponie für schwachradioaktive Abfälle auf dem Territorium der Navajo, von Bären und Delphinen, von den Segnungen des Stillens und der Rolle der Großmütter bei der Kindererziehung. Jimi Castillo redet schon über eine Stunde und kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Ein größerer Kontrast zu den Reden, die beim Republikaner-Konvent in San Diego gehalten wurden, läßt sich kaum denken. San Diego? Das war eine einzige Multimediaschau ohne jeden politischen Inhalt, hatte am Nachmittag auf der Grünen-Pressekonferenz John Rensenbrink gesagt, der im Bundesstaat Maine für den Senat kandidiert. Mag sein, aber viel unterhaltsamer war sie auch.

Die US-amerikanischen Grünen gibt es seit 1984. Seit 1987 halten sie jährliche Versammlungen ab – vor dem Wort Parteitage scheuen sie zurück. Vom Charakter her sind es eher Wochenendseminare. Auch diese Versammlung ist mit Ausnahme des heute beginnenden Nominierungsparteitags eher ein Workshop. Parteiorganisationen gibt es inzwischen in allen Bundesstaaten, auf nationaler Ebene aber gibt es bisher nur eine Art Koordinierungsstelle. Auf lokaler Ebene gibt es 29 gewählte Vertreter in 10 Bundesstaaten, meist Stadt- oder Gemeinderäte oder gewählte Vertreter in den Schulräten. Das ist nicht viel.

Im Wahljahr 1996 bewerben sich immerhin 58 Grüne in 12 Staaten um Wahlämter, darunter fünfzehn um Sitze im Kongreß. Und heute nun stellen sie ihren Kandidaten für das Amt des Präsidenten auf. Wer sich an die Debatten der erste Jahre erinnert, kann sich nur wundern. Damals ging es um die Auseinandersetzung zwischen „Spirituallos“ und „Politicos“, und es galt als abwegig, an Wahlen zu denken. Noch vor ein paar Jahren wäre mit Applaus bedacht worden, wer gesagt hätte, daß man die Grünen (die Bewegung, nicht die Partei) von unten her aufbauen muß und nicht der Illusion erliegen dürfe, daß man durch Beteiligung am System irgend etwas ändern könne. Aber während die Grünen von Basisarbeit redeten, war es die Christliche Rechte, die durch spektakuläre Aktionen und zivilen Ungehorsam, durch Blockaden und Basisarbeit den Marsch durch die Gremien, Parlamente und gewählten Institutionen antrat und schließlich die Republikanische Partei unterwanderte.

Heute scheinen die Grünen die alte Weisheit des Von-unten-nach- oben-Aufbauens umkehren zu wollen. Und so dumm ist die Idee vielleicht gar nicht. Als sich die Grünen in New Mexico vor zwei Jahren entschlossen, einen Kandidaten für den Posten des Gouverneurs aufzustellen, machten sie eine interessante Erfahrung: Der Wahlkampf auf Bundesstaatsebene beflügelte die Arbeit an der Basis. Dann waren es letztes Jahr vor allem die kalifornischen Grünen, die auf den Gedanken verfielen, Ralph Nader zu bewegen, für sie zu kandidieren. Das hat schon jetzt Wirkung gezeigt. So berichtet Tom Stafford, der im konservativen Ventura County die Grünen zu organisieren versuchte und kein Bein auf den Boden kriegte, daß er jetzt auf einmal eingeladen wurde, eine Kolumne in der lokalen Zeitung zu schreiben.

Grüne und Nader: eine politische Scheinehe

Die Abmachung zwischen Nader und den Grünen hat etwas von einer Scheinehe zum Erlangen der Aufenthaltsberechtigung. Die beiden sind übereingekommen, unabhängig voneinander zu arbeiten. Nader hat seine Botschaft von der Befreiung der Demokratie aus der Umklammerung des großen Geldes und braucht die Grünen, um eine Parteibasis zu haben. Die Grünen haben ihr weitergehendes Programm, in dem auch vieles steht, was Nader nicht unterstützt, sie brauchen ihn wegen seiner Popularität. Nader geht es dabei nicht darum, Präsident zu werden, sondern das Zweiparteiensystem und dessen Verfilzung mit der Industrie anzugreifen.

Daniel Solnit, Organisator in Marine County, faßt mit entwaffnender Offenheit zusammen, was sich die Grünen von der Kandidatur eines Präsidentschaftskandidaten versprechen. Die Grünen seien ganz offensichtlich nicht hauptsendezeitfähig – weiß Gott nicht! Eine nationale Kandidatur aber erzwingt Disziplin. Die Wahlgesetze sind in allen Bundesstaaten anders, aber überall sind sie mit Fristen verbunden, und die wollen eingehalten werden. Wo früher endlos debattiert und das Konsensverfahren hochgehalten wurde, muß jetzt gehandelt, erledigt, organisiert werden. So kommen endlich Parteiorganisationen zustande. Außerdem geht es bei dieser Ehe zwischen Nader und Grünen – wie könnte es in der US-amerikanischen Politik anders sein – um Geld.

Denn wenn es gelingt, Nader als Kandidaten in einer Mehrheit der Bundesstaaten auf den Wahlzettel zu bringen, gibt es eine reale Chance, daß er zu den großen Debatten eingeladen werden muß. Die Republikaner, die fürchten müssen, daß die Teilnahme Ross Perots an Wahlen und Debatten sie Stimmen kosten wird, werden darauf drängen, daß auch Nader teilnimmt, denn der würde, so nimmt man an, eher den Demokraten Stimmen wegnehmen. Sollten dann die Grünen fünf Prozent der Stimmen bekommen, gibt es Wahlkampferstattung, und zwar nicht zu wenig. Endlich könnte auf lokaler Ebene professionell politisch gearbeitet werden, endlich könnte sich die Arbeit der Grünen über die ehrenamtliche Selbstausbeutung erheben, könnten Landes- und Ortsverbände Stäbe einstellen und sich professionell an jene Arbeit machen, die bisher immer nur beschworen wurde.

Noch aber steht Ralph Nader nicht auf genügend Wahlzetteln, noch haben die Grünen nicht in genügend Bundesstaaten nachgewiesen, daß sie eine Partei im Sinne des Gesetzes sind. Noch werden erfahrene Organisatoren gesucht, die in den beiden Staaten Alabama und Kentucky beim Organisieren helfen. Viel Zeit bleibt nicht.

Derweil finden auf verschiedene Räume des weitläufigen Campus verteilt Schulungen statt. Profis, die schon Wahlkämpfe der Grünen organisiert haben, erklären, wie man Wähler registriert und Kampagnen führt. Und es hat den Anschein, als mache das Handeln den Anwesenden mehr Spaß als die ideologischen Debatten der Vergangenheit.