Nachgefragt
: „Noch halbe Kinder“

■ Richter Kelle zur Strafmündigkeit

Der Bremerhavener Bundestagsabgeordnete Michael Teiser (CDU) fordert, jugendliche Straftäter härter zu bestrafen. Im Juli forderte er die RichterInnen auf, das Strafrecht auszuschöpfen und Graffiti-Sprayer unter Umständen sogar ins Gefängnis zu schicken. Jetzt will Teiser das Strafmündigkeitsalter von 14 auf 12 Jahre herabsetzen. Manfred Kelle ist Jugendrichter am Amtsgericht Bremen.

taz: Herr Teiser meint, Sie stünden zwölfjährigen Straftätern hilflos gegenüber. Freuen Sie sich über seine Schützenhilfe?

Manfred Kelle: Ich fühle mich bislang nicht als hilfsloser Jugendrichter, und ich halte von Teisers Überlegungen überhaupt nichts. Es wäre völlig unangemessen, mit den härtesten Mitteln des Strafrechts auf Jugendliche zu reagieren, die noch halbe Kinder sind. Uns werden die Jugendlichen vorgeführt, wenn sie 14 Jahre alt sind. Es sind durchaus Jugendliche darunter, die schon mit zwölf, 13 Jahren erhebliche Straftaten begangen haben. Diese Strafverfahren sind wegen mangelnder Strafmündigkeit eingestellt worden. Und das ist auch gut so. Es zeigt sich nämlich, daß unter diesen Jugendliche viele sind, die wirklich nicht einschätzen konnten, was sie da eigentlich getan haben.

Warum nicht?

Viele Gewalttaten geschehen in sozialen Brennpunkten, wie zum Beispiel in Tenever. Als Richter hat man häufig den Eindruck, daß den Jugendlichen auf der Straße eine gewisse Gewalt vorgelebt wird, und zwar von Älteren, in deren Gruppe sie mitlaufen. Das Unrechtsbewußtsein dieser Jugendlichen entwickelt sich nur sehr verzögert. Und das muß man berücksichtigen.

Herr Teiser würde Ihnen jetzt entgegenhalten, daß man die Jugendlichen früher bestrafen muß, um dem Unrechtsbewußtsein auf die Sprünge zu helfen.

Härtere Strafen haben überhaupt keinen Abschreckungseffekt. Das zeigt auch ein Vergleich mit den USA. Dort wird sehr viel härter bestraft als hierzulande. Die Verhältnisse auf den Straßen sind dadurch nicht gewaltfreier geworden. Sinnvoller ist vielmehr, in einem frühen Entwicklungsstadium des Kindes Jugendhilfemaßnahmen zu ergreifen, um erzieherische Defizite auszugleichen.

Nützen Jugendhilfemaßnahmen denn?

Meine Erfahrung ist: Wenn Kinder durch Sozialarbeiter oder durch das Jugendamt betreut werden, finden sie sehr viel schneller auf den rechten Weg zurück, als wenn man sie hart bestrafen würde. Ich habe erst neulich einen konkreten Fall gehabt. Dort ist ein Jugendlicher schon als Kind aufgefallen. Seitdem sich ein Sozialarbeiter um den Jugendlichen kümmert, begeht er keine Straftaten mehr. Anstatt das Strafmündigkeitsalter herabzusetzen, sollten die Jugendämter und die Sozialarbeiter besser ausgestattet werden. Mit der Herabsetzung der Strafmündigkeit würde man die Jugendhilfe nur mehr beschneiden und sich voll aufs Strafrecht verlassen. Das Gericht müßte praktisch die erzieherische Funktion übernehmen – und zwar in einem sehr viel früheren Stadium als jetzt schon. Das halte ich nicht für sinnvoll. kes