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Die Wiesbadener Krankheit – eine Chronologie der Indiskretion

1. August 1993: Unbekannte Nachrichtenhändler offerieren Stern und Focus die „Wahrheit über Bad Kleinen“. Das Angebot enthält eine lange Liste geheimer Unterlagen aus „zwei involvierten Staatsschutzbehörden“. Eine Kostprobe, die die Seriosität des Angebots belegen soll, liegt dem Schreiben bei. Als Anzahlung verlangen die Anbieter 10.000 Mark. Für das gesamte Info-Paket müsse es schon ein bißchen mehr sein. Wörtlich: „Zähe Preisverhandlungen liegen nicht in unserem Interesse.“

7. August 1993: Beide Magazine zeigen sich interessiert und reagieren mit fingierten Anzeigen in der Mainzer Allgemeinen Zeitung.

23. August 1993:Focus druckt im Faksimile Auszüge aus internen Protokollen hessischer Sicherheitsbehörden aus der Zeit vor dem RAF-Anschlag auf den Gefängnisneubau Weiterstadt. V-Mann Steinmetz habe die Behörden vorher gewarnt. Das bestätige ein Informant des Verfassungsschutzes.

28. bis 30. August 1993: taz, Spiegel und ARD veröffentlichen Auszüge aus der nach Bad Kleinen aufgefundenen Korrespondenz von Birgit Hogefeld und Wolfgang Grams mit ihren Eltern und Kontaktpersonen aus der linken Szene.

6. September 1993:Focus strickt aus der Kostprobe des August-Angebots eine erste Geschichte. Der eigentliche Nachrichtendeal kommt jedoch weder mit Focus noch mit dem Stern zustande. Geld fließt nicht. BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert erstattet Anzeige gegen Unbekannt wegen des Verrats von Dienstgeheimnissen.

11. Januar 1994: Wegen des eskalierenden Streits über die „Sachbearbeitung durch das Referat TE 11“ zitiert die Bundesanwaltschaft BKA-Präsident Zachert zum Rapport nach Karlsruhe. Die „Leitungsbefugnis der Bundesanwaltschaft“, schimpfen die Oberankläger, sei in Wiesbaden mehrfach „nicht beachtet“ worden.

12. Januar 1994: Die Staatsanwaltschaft München durchsucht die Focus-Redaktion nach Hinweisen auf die anonymen Nachrichtenanbieter.

20. Januar 1994: Die taz veröffentlicht Auszüge aus einem Dossier des BKA-Referats TE 11, das die RAF-Gefangene Eva Haule vom Vorwurf der Beteiligung an einem Anschlag auf die US-Airbase im August 1985 und dem vorangegangenen Mord an einem US-Soldaten entlastet.

17. Februar 1994: Unbekannte schicken einen weiteren Auswertungsbericht des BKA- Referats TE 11 an taz und Focus. Das Dossier kommt zu dem Ergebnis, Klaus Steinmetz, der V- Mann des hessischen Verfassungsschutzes, sei in Wirklichkeit ein „tragendes Mitglied der RAF“ gewesen.

26. Februar 1994: Unter der Überschrift „Der V-Mann als RAF-Mitglied“ berichtet die taz über die BKA-Analyse. Zwei Tage später zieht Focus nach. Beide Blätter melden auch die vom Bundesinnenministerium verfügte Zwangsentsorgung des Referatsleiters TE 11 in die Rauschgiftabteilung des BKA.

28. Februar 1994: Zachert erstattet erneut Strafanzeige wegen Verletzung von Dienstgeheimnissen.

1. März 1994: Versetzung des Referatsleiters TE 11 in die Rauschgiftabteilung. Weitere Beamte des in Ungnade gefallenen Referats werden binnen weniger Tage umgesetzt, unter ihnen auch die beiden für das Steinmetz- und das Haule-Dossier verantwortlichen Sachbearbeiter.

10. März 1994: taz-Bericht über ein nichtöffentliches Fahndungsblatt aus der Terrorismusabteilung des BKA. Gesucht wird nach einem unbekannten Paar, das sich angeblich unmittelbar vor der Bad-Kleinen-Aktion am Bahnhof der Kleinstadt aufgehalten hat. Im April meldet Focus unter Berufung auf BKA- Insider, bei dem Pärchen handle es sich um die mutmaßlichen RAF-Mitglieder Ernst-Volker Staub und Daniela Klette.

18. April 1994:Focus-Bericht über ein BKA-Gutachten, wonach in einem auf Klaus Steinmetz zugelassenen Pkw Spuren des bei der Knastsprengung in Weiterstadt von der RAF eingesetzten Sprengstoffs gefunden worden seien.

25. Oktober 1994: Mitarbeiter des BKA-Referats TE 11 müssen Speichelproben und Fingerabdrücke abliefern.

10. Januar 1995: Beamte des hessischen Landeskriminalamts durchsuchen Büros und Wohnungen von drei zwangsversetzten Beamten des BKA-Referats TE 11 nach Hinweisen auf ihre Beteiligung an der Serie von Indiskretionen.

19. Januar 1995: Der Stern berichtet unter der Überschrift „Verraten und verkauft“ über den Verdacht gegen die drei Beamten. In dem Artikel heißt es, unter den in der Focus-Redaktion beschlagnahmten Dokumenten habe sich „offenbar“ ein Umschlag befunden, „den die anonymen Absender mit ihrer Spucke zugeklebt hatten“. Dies habe die verdächtigten Beamten überführt. Der Beitrag ist nicht namentlich gezeichnet.

3. Juli 1995: Das Ermittlungsverfahren gegen zwei der verdächtigen Beamten wird eingestellt, darunter das gegen den Referatsleiter, der Wiesbaden zwischenzeitlich den Rücken gekehrt hat. Der dritte Beamte bleibt – bei halben Bezügen – weiterhin vom Dienst suspendiert.

31. März 1996: BKA-Präsident Hans-Ludwig Zachert gibt auf und geht in den vorzeitigen Ruhestand.

2. Juli 1996: Die Staatsanwaltschaft Wiesbaden erhebt Anklage gegen den Kriminaloberkommissar Dirk L. beim Landgericht Wiesbaden. gero

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