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Der Ausweg unter dem Pflaster

In London fuhr 1863 die erste U-Bahn, in Berlin erst 1902  ■ Von Manfred Kriener

Am Anfang war der Gaul. Im Jahre 1625 wurde in London die zweirädrige Pferdedroschke eingeführt. 1829 verkehrte in der englischen Metropole erstmals der berühmte Pferdeomnibus „Shillibeers“. Abbildungen zeigen ein kurioses Gefährt, eine Art halbierter Omnibus, dessen gutes Dutzend Passagiere von zwei dicken Rössern gezogen wird. Die nächste Innovation war die Pferde-Straßenbahn, die 1832 zuerst in New York von zwei PS über verlegte Schienen gezogen wurde. 1861 kam sie nach London. Dort wurde schon zwei Jahre später, am 10. Januar 1863, die erste Untergrundbahn der Welt eröffnet, die sechs Kilometer lange Metropolitain Line, die von Paddington zur Farringdon Street fuhr.

Vorausgegangen war in den 50er Jahren ein dramatisches Bevölkerungswachstum. Londons Bevölkerung sprang in diesem Jahrzehnt, einmalig in der westlichen Welt, von 2,7 auf 3,2 Millionen Einwohner – und alles in den Wohngebieten im Umfeld der Arbeitsstätten. Der Verkehrsandrang war schon damals unerträglich. Es brauchte ein Massenverkehrsmittel, das leistungsfähiger war als das Pferd. Die Herren Sir John Fowler und Sir Benjamin Baker sahen den Ausweg unter dem Straßenpflaster. Ihre Entwürfe zum Bau einer Untergrundbahn besorgten die Ablösung des Pferdes.

Die ersten U-Bahnen müssen schrecklich gewesen sein. Es waren alte Schlachtrösser, also ganz normale Dampflokomotiven, die in den Anfängen der Londoner „Unterpflasterbahn“ die Waggons zogen. Die Bahnhöfe waren wahre Dampfkessel, ein Gemisch aus Rauch, Dreck, Gestank und dem ohrenbetäubenden Lärm der Lokomotiven. An moderne Lüftungsanlagen war nicht zu denken. Noch Jahrzehnte später, als die Loks schon elektrisch betrieben wurden, gehörte der Gestank untrennbar zum U-Bahn-Betrieb. In den eingleisigen Röhrentunneln wirkten die Züge wie riesige Kolben, die die Luft vor sich herschoben und sie schließlich in die Bahnhöfe drückten. Die waren schäbig und schlecht beleuchtet, die Fahrgastabteile eng und unbeheizt.

Dennoch war die Londoner U-Bahn von Anfang an ein großer Erfolg. Die Bevölkerung hatte den Bau zunächst zwar als utopischen Quatsch abgelehnt. Doch kaum verkehrte die erste Linie, stiegen die Massen zu. Ludwig Troske, ein zur Inspektion nach London entsandter Regierungsbaumeister der Preussischen Staatsbahnen, war von den „geradezu staunenswerten Verhältnissen“ hoch beeindruckt. Allein im Jahre 1886, schrieb er, seien in der inzwischen weiter ausgebauten Londoner Untergrundbahn bereits 121 Millionen Menschen befördert worden. Die Stadtbahn der Berliner Eisenbahn brachte es zur selben Zeit dagegen nur auf kümmerliche 12 Millionen Fahrgäste.

Berlin blieb in vielem rückständig. Erst vier Jahrzehnte nach dem englischen Durchbruch, am 18. Februar 1902, übergab die „werdende Großstadt“ den ersten Teil der Berliner U-Bahn dem öffentlichen Verkehr. Halsstarrigkeit und Fehleinschätzungen der Behörden verbauten in der aufstrebenden Metropole alle Chancen für eine moderne Verkehrsgestaltung.

Dabei hatte Berlin beste Voraussetzungen. Dem Berliner Bürger Werner Siemens war 1866 mit der Schaffung der Dynamo-Maschine eine geniale Erfindung geglückt. Große Mengen elektrischer Energie waren plötzlich verfügbar und konnten in Antriebskraft umgewandelt werden. 13 Jahre später, auf der Berliner Gewerbeausstellung von 1879, stellte Siemens erstmals den Prototypen einer kleinen elektrischen Rundbahn vor. Doch die Behörden blieben stur. Alle in den 80er und Anfang der 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts dem Polizeipräsidium und der Stadt Berlin vorgelegten Pläne des großen Ingenieurs zum Bau einer elektrischen Hoch- und Untergrundbahn stießen auf Widerstand. Andere Großstädte wie Budapest (1896), Glasgow (1897) und Paris (1900) liefen Berlin den Rang ab und realisierten erste U-Bahn- Projekte.

Der Schwemmsand des Berliner Untergrunds erschien dem Tiefbauamt als gänzlich ungeeignet für eine Metro. Schäden an der Kanalisation, an Straßen und Gebäuden wurden beschworen. Immer neue, von Siemens vorgeschlagene Trassenführungen schmetterten die Genehmigungsbehörden ab. Historiker verwiesen auf fehlende Rechtsgrundlagen als Grund für die Ablehnung. Den Behörden erschien eine U- oder Hochbahn nicht nur allzu gewagt – sie wußten auch nicht, ob sie das Vorhaben nach dem Eisenbahngesetz von 1838 oder nach der Gewerbeverordnung begutachten sollten. 1892, zehn Jahre vor Inbetriebnahme der ersten U-Bahn, wurde dann das „Gesetz über Kleinbahnen und Privatanschlußbahnen“ verabschiedet. Endlich war der rechtsfreie Raum geschlossen.

Der Bau der ersten U-Bahn von der Warschauer Brücke zum Zoologischen Garten mit einer Abzweigung zum Potsdamer Platz blieb dennoch eine Herausforderung: Häuser und ganze Straßenzüge mußten abgerissen werden, 25 Millionen Goldmark waren zu finanzieren. Der größte Teil der Strecke wurde als Hochbahn gebaut, nur der Teilabschnitt vom Nollendorfplatz bis Zoo wurde unters Pflaster gelegt, nicht zuletzt „behufs Vermeidung einer Beeinträchtigung des Anblicks der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche“.

Die Fahrtkosten lagen je nach Klasse zwischen zehn und dreißig Pfennig. Die Geschwindigkeit der Bahn war auf 50 Kilometer begrenzt. Gleichzeitig verlangte die Stadt einen Fünf-Minuten-Betrieb in beiden Fahrtrichtungen. Damit war die U-Bahn konkurrenzlos schnell. Rasch wurde die Ost- West-Verbindung durch weitere Strecken nach Nordosten, Westen und Südwesten ergänzt.

Zur Katastrophe kam es am 27. März 1912, als bei der Untertunnelung der Spree die Tunneldecke durchbrach und die U-Bahn unter Wasser setzte; die im Tunnel beschäftigten Arbeiter konnten sich gerade noch retten. Schon sechs Tage später jedoch konnte die Berliner U-Bahn ihre Fahrt in die Zukunft fortsetzen.

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