: Das Bild, das bleibt
■ Wenn Gebrauchsmusik Kulturgut wird: "A Tickle In The Heart", ein Dokumentarfilm über die Epstein Brothers, die großen alten Männer des Klezmer
Klezmer ist die traditionelle Musik der jüdischen Feste, von Bar-Mizwas oder Hochzeiten. Ein großes Glück wird gefeiert, und ein wenig wird auch getrauert um den Verlust von Freiheit oder Jugend oder beidem. Und so ist auch die Musik nie eindeutig, sie lädt zum Tanz und drückt einem gleichzeitig eine Träne ins Auge. So lustig der Rhythmus beim Klezmer purzeln mag, die Grundstimmung ist immer melancholisch. Und so aufgeräumt und amerikanisch sich die Epstein Brothers auch geben, so sehr grundzufriedene Rentner sie auch sein mögen, ein bißchen traurig ist jeder dieser drei altehrwürdigen Männer.
Dieser „Tickle in the Heart“, dieses Kitzeln im Herzen, dieses Lachen, obwohl man weinen möchte, ist das Grundmotiv für die Dokumentation des in Berlin lebenden Schweizers Stefan Schwietert. Dieses ambivalente Gefühl, das so schwer in Worte zu fassen ist, das auch der 84jährige Max Epstein nicht erklären kann. „Do you see the difference?“ fragt er, aber meint doch statt sehen hören und singt dann eine kleine Melodie aus lauter „Dadadas“ – und man sieht und hört tatsächlich den Unterschied.
Irgendwann erzählt Willie Epstein, der die Trompete bläst und sich um die Geschäfte kümmert, wie sie, die immer nur für feiernde Juden in ihrem Alter gespielt hatten, plötzlich zu Kulturgut wurden. Als in den 80ern in Europa und Amerika das Interesse an den traditionellen Volksmusiken wiedererwachte, machten sich Musikethnologen auch auf nach Osteuropa, um nach den Meistern der jüdischen Musik zu suchen. Aber niemand wurde gefunden, alle waren sie tot. Und plötzlich war Max, der Klarinettist und Älteste des Clans, obwohl bereits in den USA geboren, der große alte Mann des Klezmer. Kein Epstein hätte je daran gedacht, daß sie irgendwelche musikhistorische Bedeutung haben könnten, sie, die sich immer als Gebrauchsmusiker verstanden hatten. Noch heute nimmt Willie die Wandlung der Dinge mit einem fast mitleidigen Lächeln zur Kenntnis.
In der Nachkriegszeit wuchsen die jüdischen Gemeinden in New York und dem Rest der USA durch die Immigranten drastisch an, und die Epsteins hatten jede Menge zu tun. Jeder wollte sie für ihre Feiern haben, also teilten sie sich auf und standen einzeln jeweils einem Orchester vor. So konnte es passieren, daß am gleichen Abend das Epstein Brothers Orchestra an vier verschiedenen Orten auftrat. „Sie bekamen einen Epstein“, amüsiert sich Julie Epstein noch heute und hebt den Zeigefinger leicht triumphierend. „Die Amerikaner“, sagt er an einer anderen Stelle, „die Amerikaner wissen mit Amerika nichts anzufangen.“ Was heißen soll: er schon. Dann hat er sein Schlagzeug aufgebaut und schlägt einen ersten Trommelwirbel: „I'm ready to work. Somebody give me a job.“
Doch das goldene Zeitalter ging zu Ende. Die folgende, in Amerika geborene Generation wollte die Musik ihrer Eltern nicht mehr hören, und die Alten zogen samt ihrer Rente ins sonnige Florida. Die Epsteins folgten ihrer Kundschaft. Nicht, daß sie es finanziell noch nötig gehabt hätten, aber sie wollten nicht aufhören zu spielen. Schwietert läßt seine Kamera langsam die gepflegten Flachbauten mit den gepflegten Vorgärten und den gepflegten Garagenauffahrten der sonnigen Seniorensiedlung hinabfahren. Der nackte Oberkörper von Max schwabbelt, wenn er seinen Wagen wäscht. Ein Schild verspricht für jeden Abend um elf ein Bingo-Spiel. Ein Schwarzer bläst heruntergefallene Blätter von den Wegen.
Die Reise, auf der Schwietert die Brüder schließlich begleitet, führt von Florida nach New York, von dort nach Berlin, dann in die Heimat ihrer Eltern nach Polen und wieder zurück nach Florida. In New York besuchen sie die Stätten ihrer großen Triumphe, treffen auf der Straße Menschen, bei deren Hochzeit oder Beschneidung sie gespielt haben. In Berlin treten sie auf vor ruhig zuhörenden Intellektuellen und wundern sich, daß keine Juden im Publikum sind. In Polen spielt Max mitten auf der staubigen Dorfstraße. In Florida schwofen ondulierte Rentnerinnen. Die Szenen verändern sich, aber das Bild, das bleibt, sind die Brüder, wie sie mit ihren Instrumentenkoffern unterm Arm ganz gemütlich, voll Würde und Weisheit, zum Auftritt schreiten.
Und auch die Musik bleibt dieselbe, zeitlos, unabhängig von den Menschen. „Spielen ist mein Hobby, ich mache ja nichts anderes“, sagt Max, die Klarinette im Schoß, „es ist mein Hobby. Und auch meine Berufung.“ Es sind die letzten Worte des Films. Aber noch nicht die letzten Noten. Thomas Winkler
„A Tickle in the Heart“, s/w, BRD/Schweiz 1996, R+B: Stefan Schwietert, 83 Min.
Orte und Termine siehe cinemataz
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