: Leidens-Kumulation
■ Vier Jahre Haft für eine Frau, die ihren Vergewaltiger erschoß
Über ihre Vergewaltigung konnte sie sechs Jahre lang nicht reden. Nun mußte Svetlana D. nicht nur öffentlich ihr Erlebnis ausbreiten. Sie mußte erleben, wie sich zur Kardinalfrage ihrer Zukunft kristallisierte, ob das Hamburger Landgericht ihr Glauben schenkt. Es glaubte: Gestern wurde Svetlana D. zu vier Jahren Haft wegen der Tötung ihres Vergewaltigers verurteilt. Wegen ihrer Geschichte erkannte das Gericht auf einen minderschweren Fall.
Im vergangenen Juli erschoß Svetlana D. ihren Peiniger Jure S. auf offener Straße (taz berichtete). 1989 hatte der Bekannte sie vergewaltigt, ihr über die Jahre mit Gewalt gedroht, sollte sie ihn verraten. Selbst ihrem Ehemann konnte sie sich nicht anvertrauen. Denn der, von Gerüchten mißtrauisch geworden, unterstellte ihr gar ein Verhältnis mit dem Rentner. Eines Abends kam es zum Streit, und Svetlana D. erzählte ihr Martyrium. Dann überwältigte sie die Angst, ihr Mann könne sie verlassen. Sie steckte eine Pistole ein, um sich selbst zu töten, traf auf der Straße ihren Vergewaltiger und erschoß ihn. Anschließend versuchte sie, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen.
Während ihr Verteidiger der Meinung war, die Geschichte der Tötung habe mit der Vergewaltigung 1989 begonnen, wollte der Nebenklageanwalt der Familie des Getöteten nur „objektive Anhaltspunkte“ für eine Vergewaltigung gelten lassen. ZeugInnen hätten ausgesagt, daß sie sich eine sexuelle Gewalttat des Rentners nicht vorstellen könnten. Die Vergewaltigung wurde im Gericht zur Glaubensfrage, und die für Svetlana D. zu einem weiteren Martyrium.
Schließlich legte das Gericht die Empfindung von Svetlana D. als Maßstab zugrunde: „Ob es eine klassische Vergewaltigung war, wissen wir nicht. Wir sind jedoch davon überzeugt, daß es aus Sicht der Angeklagten zum Geschlechtsverkehr gegen ihren Willen gekommen war.“ Daß sie ihren Peiniger erschoß, sei der „Kumulationspunkt einer sechsjährigen Leidensgeschichte“. Elke Spanner
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