: „Irgendwie eckst du überall an“
In vielen kleinen Wohngemeinschaften betreut die Hamburger Stiftung Abendroth 62 Mädchen, junge Frauen und ihre Kinder. Erste Hilfe beim Kampf mit dem Alltag ■ Von Lisa Schönemann
Nur nicht zurück ins Heim. Das wollte Cora* auf keinen Fall. „Ich bin so oft abgehauen, bis ich einen Platz in einer kommunalen Übernachtungsstätte bekam.“ Cora ist fünfzehn. „Irgendwie eckst du überall an“, bilanziert sie mit einer Mischung aus Frust und Stolz. Wer aus dem Bereich der öffentlichen Erziehung komme, gerate in der Schule, im Freundeskreis und erst recht bei den zahlreichen Versuchen, von den Behörden Hilfe zu bekommen, schnell in die Außenseiterposition.
Auch in der Abendroth-Stiftung, in der sie seit drei Monaten lebt, fiel es Cora schwer, Fuß zu fassen. Zu Anfang habe sie sich alles andere als heimisch gefühlt, erzählt das Mädchen mit dem ausrasierten Haaransatz und dem kurzen Zopf. „Bei uns in der WG prallen die Extreme aufeinander.“ Fünf Heranwachsende leben in einer der betreuten Wohngruppen der Stiftung. Cora hatte sich fest vorgenommen, nur noch zu tun, was sie wollte. „Ich bin ein Mensch, der nicht gut in der Gruppe leben kann“, hat sie bald festgestellt. Da sei es dann „mit den Betreuerinnen schnell anstrengend geworden“. Cora setzte sich nach Hannover und Berlin oder einfach nur zum Hamburger Hauptbahnhof ab.
„Cora brauchte anfangs 'ne lange Leine“, schmunzelt ihre Betreuerin Petra Soest-Westphal. Die Mädchen kommen aus den unterschiedlichsten Lebenssituationen, meist mit Unterstützung der Ämter für Soziale Dienste, in eine der Abendroth-Wohnungen. Erfahrungen von Überforderung und Mißbrauch ihrer Person sowie Gewaltkonfrontationen prägen ihre Biographie.
Beim Einstieg in einen vorgegebenen Tagesablauf werden ihnen neue Steine in den Weg gelegt: Die Abendroth-Mitarbeiterinnen haben große Schwierigkeiten, die Mädchen in den umliegenden Schulen unterzubringen. „Wir hören von den Lehrern, sie hätten bereits vier schwierige Schüler und könnten nicht noch eine in den Klassenverband aufnehmen“, sagt Anne Trumm, die Leiterin des Mutter-Kind-Bereiches. Ein Mädchen habe einem Schuldirektor Teile ihrer Lebensgeschichte und von ihrem Neuanfang erzählt. „Da hat er gleich abgewunken“, so Anne Trumm.
Vor diesem Hintergrund sind die Sozialpädagoginnen gezwungen, immer wieder neue Motivationsstrategien zu entwerfen. Der Schulplatz ist nur ein Baustein. „Viele Mädchen finden ihren Ort in der Schule nicht“, hat eine Betreuerin beobachtet. Die Chancen, auf dem freien Arbeitsmarkt einen Ausbildungsplatz zu bekommen, sind so gering, daß die Mädchen nicht wissen, worauf sie hinarbeiten sollen. Die Stiftung vermittelt einige Jugendliche in den Café-Betrieb des Bramfelder Kulturladens, um ihnen einen minimalen Kontakt mit der Arbeitswelt zu bieten. „Mit dem verdienten Taschengeld stärken die Mädchen, für die der Unterhalt oft in zweiter oder dritter Generation vom Sozialamt kommt, vor allem ihr Selbstwertgefühl“, betont Gabriele Pape, Leiterin des Abendroth-Hauses. Einige Neuankömmlinge sind vor anderthalb Jahren zuletzt im Schulunterricht gewesen und können an „Arbeit“ noch gar nicht denken.
Dessen ungeachtet wollen Saskia* (17) und Britta* (15) versuchen, ihr Leben in die Hand zu nehmen. „Ich will mit meinem Kind allein leben, und deshalb war klar: Ich geh' zu Hause lieber raus“, sagt Britta. In zwei Wochen soll ihr kleiner Sohn geboren werden. Die Abendroth-Stiftung stellt ihr und dem Kind je ein eingerichtetes Zimmer zur Verfügung. Küche und Bad teilt sie sich mit Saskia und deren zwei kleinen Söhnen.
Ihr Freund schaut regelmäßig vorbei. Eine gemeinsame Wohnung können sich die beiden nicht leisten. Nach dem Mutterschutz will Britta die Schule zu Ende machen. Die Betreuerinnen helfen bei der Suche nach einer Tagesmutter. Britta hatte Glück: Ihr Schulleiter hat angeboten, das Neugeborene könne notfalls mit in den Unterricht gebracht werden.
Saskia wandte sich an das Amt für Soziale Dienste, als das zweite Kind unterwegs war. „Mit meiner Mutter, meinem Bruder und meinem Kind wurde es in der Zwei-Zimmer-Wohnung einfach zu eng“, erzählt die junge Frau. Mit ihrem Freund habe sie „Schluß gemacht“, weil der „nur noch Mist gemacht“ habe. Im Abendroth-Haus gibt es für Männer eine Besuchsregelung, um Übergriffe und Gefahrensituationen zu vermeiden. Saskia und Britta unterstützen sich gegenseitig im Kampf mit dem Alltag, wenn eine von beiden krank ist oder Probleme auftauchen.
Nach einem halben Jahr betreuten Wohnens fühlen sich die 62 Mädchen, jungen Frauen und Kinder oft stark genug und gefestigt, um wieder den Kontakt zu ihren Familien oder dem Teil aufzunehmen, der davon übriggeblieben ist. „Zu Anfang brauchen sie den Abstand von ihrer Mutter“, hat die Sozialarbeiterin Sigrid Wallis beobachtet. Die Sehnsucht nach der Familie lassen sich die heranwachsenden Frauen nicht anmerken. „Mitunter sind wir für sie wie große Schwestern, aber wir können keinen vollständigen Ersatz bieten für alles Versäumte.“
* Name geändert
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