: „Abwehr der eigenen Ohnmacht“
■ Im Interview: Der Psychologe Joachim Lempert, Leiter der Beratungsstelle „Männer gegen Männergewalt“ in Hamburg, über Jugend- und Jungenkriminalität
taz: Seit dem Freitod von Mirco aus Neuwiedenthal hat das Thema Jugendgewalt Hochkonjunktur in den Medien. Ist es Jugend- oder ist es Jungengewalt?
Es ist eindeutig Gewalt durch Jungen. Wenn es mal eine Mädchen-Gang gibt, wird das sofort entsprechend hervorgehoben. Für Jungen sind Banden normal. Die klassische Jugendbande besteht aus Jungs.
Warum bilden Jungs Banden?
Das entscheidende Problem für Jungen ist, zum Mann zu werden. Was gehört dazu, ein richtiger Kerl zu sein? Viele Jungen, gerade aus Hochhaussiedlungen wie Neuwiedenthal, haben keine Lebensperspektive. Sie fühlen Ohnmacht. Doch ohnmächtig ist man als Junge nicht, sondern cool.
In Banden sein, heißt cool sein?
Man muß so tun, als würde einem alles nichts ausmachen. Sehen Sie doch den Reemtsma-Prozeß. Da geht der Täter für 10 Jahre in den Knast. 10 Jahre! Das ist unvorstellbar lang. Und bei der Urteilsverkündung ist er so regungslos, als würde ihm das überhaupt nichts ausmachen. Das ist für Männer das wichtigste: Nach außen inszenieren sie etwas, das nach Größe aussieht. Cool sein oder eben andere einschüchtern. Macht man andere kleiner, wirkt man selbst größer.
Also geht es bei Jugendkriminalität um Macht?
Nein. Um die Abwehr der eigenen Ohnmacht.
Gewalttätige Männer sind also Opfer ihrer Lebensumstände?
Gewalt ist nicht zu entschuldigen. Wer zuschlägt, ist voll dafür verantwortlich.
Wie arbeiten Sie mit gewalttätigen Jungen?
Wenn ich ihnen erzähle, daß sie eine schwere Kindheit und keine Perspektive haben, nehme ich sie nicht ernst. Das steigert die Gewalt eher noch. Gebe ich ihnen aber die volle Verantwortlichkeit für das, was sie tun, müssen sie mir nicht mehr beweisen, wie stark sie sind. Dann gibt es Raum für Veränderung.
Hamburger Jugend- und Rechtspolitiker diskutieren über eine Verschärfung der Strafen.
Die ohnmächtigste Situation, in die ich jemanden bringen kann, ist der Knast. Wer da raus kommt, ist noch gewalttätiger.
Mirco hat sich umgebracht. Fällt es Jungen schwer, sich anderen anzuvertrauen?
An Beratungsstellen wenden sich nicht Menschen, sondern Frauen. Nur jeder zwanzigste Ratsuchende ist ein Mann. Mirco ist ein typischer Fall. Er hat versucht, sein Problem alleine zu lösen., und ist damit gescheitert.
Dann müßte die Selbstmordrate bei Jungs höher sein.
Jungen begehen vier Mal häufiger Selbstmord als Mädchen. Darin können sie noch ihr Gesicht wahren.
Wie sollte Hamburg Jugendpolitik machen?
Zuerst muß man sehen, daß es Jungen sind, die Gewalt begehen. Man muß für Jungs und Mädchen unterschiedlich vorgehen. Das wichtigste Thema ist für sie ihre Geschlechtlichkeit. Das klammern wir Erwachsenen völlig aus, und dann wundern wir uns, daß die Kids sagen, daß wir sie nicht verstehen. Wir Erwachsenen sind verdammt arrogant. Fragen: Elke Spanner
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