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Begnadete Versager

■ Berlin war schon immer ein Anziehungspunkt für Verlierer aller Art: Auszug aus dem Buch "Berliner Ökonomie - Prols und Contras" von Helmut Höge, das in diesen Tagen im BasisDruck Verlag erscheint

Die „Berliner Ökonomie“ hat eine ähnliche Reichweite wie die „Weimarer Republik“, konzentriert sich aber quasi-natürlich in der altneuen Hauptstadt. Diese wird schon seit Beginn von Auswärtigen heimgesucht: „Wanderungswellen, die gegen Europas und Deutschlands Grenzen branden, zum großen Teil von Schlepperbanden geschleust“, wie der Dauerberliner Wolf-Jobst Siedler schreibt, der jedoch die alten der Stadt wohltuenden „Zuwanderer“, wie etwa Westpreußen, Hugenotten und Juden, sauber von den neuen Emigranten der „Dritten Welt“ unterscheiden will, die seiner Meinung nach „die Misere der Hilfsarbeiter und der Arbeitslosigkeit“ in Berlin bloß „vermehren“. Seine Unterscheidung ist ebenso geopolitisch kalkuliert wie künstlich.

Berlin war schon immer ein Anziehungspunkt für Verlierer und Versager aller Art. Zuletzt, nach 1961, zogen vorwiegend junge Schwaben und Jecken in den Westteil. „Rheinländer raus, Ausländer rein“, steht seit 1986 an einer Brandmauer in Kreuzberg. „Der Bau der Mauer hat aber auch sein Gutes gehabt: die schlimmsten Leute haben damals die Stadt verlassen“, so Wolfgang Neuss, selbst ein begnadet Gescheiterter. Die meisten, die statt dessen kamen, hatten im Rechnen eine Fünf, aber im Malen eine Eins gehabt, dann womöglich noch den Wehrdienst verweigert und anschließend nicht mehr gewußt, „was tun?“.

Seit der sogenannten Wende kommen nun noch die ganzen sozialistischen Einheits-Verlierer aus der Partei, den Massenorganisationen und den Ministerien der DDR dazu. Dann all die im Westen gescheiterten Unternehmensberater, Konkursritter und Manager. „Was meinen Sie, wen wir in die Treuhand geschickt haben? Einen 50jährigen, der die Stelle eines Jüngeren blockierte, und zwei junge Leute, für die es nach ihrer Ausbildung keine Verwendung im Haus gab“, verriet mir ein Bankmanager aus Frankfurt am Main. Auch die Landesregierungen schickten reihenweise ihre überflüssigen Kader nach Osten, und viele Konzerne gaben leichtherzig ihre bislang mit Repräsentationsaufgaben betreuten Adligen an den „Aufschwung Ost“ ab. In einer Bonner Diskussion mit ostdeutschen Betriebsräten verstieg sich Heiner Geißler zu der Behauptung, „in der Treuhand sitzen aber doch nicht nur Verbrecher!“. Er meinte wahrscheinlich „Versager“. Die andere Seite hatte jedoch anscheinend auch nicht gerade erste Sahne in Marsch gesetzt, jedenfalls beteuerte einmal ein IG- Metall-Pressesprecher, daß vor allem die „schwierigen“ und im Grunde fertigen Kollegen „mit Alkoholproblemen und sonstwas“ in den Osten gegangen seien.

Man ist nur allzu leicht geneigt, dies in der allgemeinen Erfolgsorientiertheit des Westens für ein Manko Berlins bei seiner Metropolen-Werdung zu halten. Das Gegenteil ist der Fall: Der stete Zustrom an Verlierern hat zu einer ganz eigenen Ökonomie geführt. Ich bin mir dabei mit dem Neuköllner Künstler und Hobby-Mathematiker Thomas Kapielski („Einfallspinsel gleich Ausfallspinsel“) einig, daß das Funktionieren der Stadt schon lange nicht mehr auf dem Prinzip des Energieverlustes basiert und somit eine real existierende Widerlegung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik ist. Dieses Phänomen nennen wir „Berliner Ökonomie“. Es geht dabei nämlich genaugenommen um einen kalkulierten Verlust, d.h. um Geschäfte (im allerweitesten Sinne) ohne abschätzbaren Gewinn und ohne Risiko. Wobei das unter Umständen bis zum Jonglieren mit Rückstellungen aus heißer Luft gehen kann und dann auch schon mal ins „Kriminelle“ lappt, aber im Grunde ist diese „Berliner Ökonomie“ genauso „gesund“ wie, sagen wir, die Lüneburger Heide oder Maastricht. Wehr- Wirtschaftsexperten sprachen früher von einem „preußisch-protestantischen Potlatsch“ (PPP).

Neuer Name, neues Glück

Dazu ein (thailändisches) Beispiel: Sie hatte vor acht Jahren bereits ihren Vornamen von „Viel Glück von Buddha“ in „Unterwegs die Sache gut machen“ geändert, mit Erlaubnis ihrer Mutter. Das war primär ihren Querelen mit der Ausländerbehörde geschuldet: „New name, new game!“ Zuletzt wohnte sie im Wedding, schaffte aber in einem kleinen „Club“ in Hessen an. Immer wenn sie nach Berlin kam, arbeitete sie noch in der Weddinger „OK Girls“-Bar und besuchte regelmäßig das Wat Thai: einen Ableger des Klosters Wat Saked/Bangkok in einer Villa in Wittenau.

Dort lagen eines Tages fotokopierte Flugblätter aus, auf denen man seinen Namen eintragen konnte sowie eine zu spendende Geldsumme. Sie war an jenem Tag besonders gut gelaunt und nahm deswegen gleich mehrere Flugblätter, auf die sie später die Namen ihrer Freunde, Kinder und Verwandten eintrug. Darunter waren auch viele Bekannte, die ihr größere Geldsummen schuldeten und sie nicht zurückzahlen konnten. Obwohl sie mittlerweile wütend auf etliche dieser Leute war, ließ sich nicht leugnen, daß sie das Glück besonders nötig hatten. Ihre Spendensumme betrug am Ende 1400 DM, etwa 30 DM für jeden, wobei sie sich selbst mit 100 DM belastet hatte. Spätestens am 6. Juni, bei einer Feier im Wat Thai, wollte sie das Geld übergeben.

In der Zwischenzeit zerschlug sich jedoch ihre Übernahme des hessischen Clubs. Sie fuhr zurück nach Berlin und mußte sich erst einmal neu sammeln. D.h. sie blieb die meiste Zeit in ihrer Weddinger Wohnung, und ihre Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Schließlich bot ein Freund an, ihr die 1400-DM-Spende zu geben. Da er aber auch nicht viel Geld besaß, lehnte sie ab: „Ist nicht gut, wenn man sich die Spende abringen muß, dann bringt sie kein Glück.“ Gleichzeitig klagte sie aber: „Wenn ich bis zum 6. nicht hingehe, I can forget Wat Thai for ever.“ Dafür versuchte sie anschließend um so verbissener, per Telefon ihre Außenstände einzutreiben – vergeblich. Schließlich ließ sie sich überzeugen, erst einmal wieder nach Bangkok zu fliegen – zurück auf Los! Um von dort aus ein neues „business“ in Angriff zu nehmen, welches sie dann nach Berlin (zurück-)ausdehnen könnte. Jemand versprach ihr, dafür das Fluggeld aufzutreiben. Dummerweise stellte sich dann heraus, daß dieses Geld erst einen Monat später zur Verfügung stand. Drei Wochen lang zappelte sie in Gedanken zwischen diesen drei unbefriedigenden Möglichkeiten: auf wenig Glück bringendes, aber pünktliches Spendengeld zurückgreifen; hastig das Geld in irgendeiner westdeutschen Nachtbar anschaffen gehen (sogar ein Angebot aus Tel Aviv ließ sie sich kurz durch den Kopf gehen, 20000 DM im Monat sollte sie dort garantiert verdienen, „aber anschließend bin ich tot, hundertprozentig!“); oder doch nach Bangkok fahren, wenn auch nicht mehr rechtzeitig vor dem demütigenden Verstreichenlassen des letzten Termins für die Spendenübergabe im Wat Thai.

Sie wurde immer stiller, hing apathisch am Fenster und schaute auf die Straße. Gelegentlich sprach sie sogar davon, daß sie am liebsten sterben würde. Sonst hatte sie mit leichter Hand für sich und ihre Kinder immer die tollsten Gerichte zubereitet, jetzt mißlang ihr sogar Spaghetti mit Tomatensoße. Als jemand sie in ein neues Thai- Restaurant in Neukölln einlud, ja, sie geradezu dort hinzerrte, nörgelte sie die ganze Zeit übers Essen, über den Preis und die Bedienung (das Lokal hatte auch tatsächlich einen deutschen Besitzer, was sie, die früher selbst ein Restaurant in Moabit besaß, sofort bemerkt hatte). Am 4. Juni waren die Ausweglosigkeiten schließlich so weit gediehen, daß sie entschlossen alle drei Möglichkeiten in Angriff nahm: Für den Montag verpflichtete sie sich, in einem neuen Club im Prenzlauer Berg zu arbeiten. Außerdem nahm sie sich fest vor, drei Wochen später nach Bangkok zu fliegen. Und am Sonntag wollte sie erst einmal die Spendengelder zusammen mit ihrem Anteil an einem großen Essen im Wat Thai übergeben.

1400 Mark in kleinen Scheinen

Ihr Bekannter besaß an dem Tag jedoch nur 900 DM und mußte sich deswegen 500 DM von einem Kumpel dazuleihen. Die gesamte Summe tauschte er anschließend bei einer Bank in grüne 20-Mark- Scheine um. Sie hatte derweil ihre Tochter zum Wat Thai geschickt, wo man ihr 44 Umschläge gab, die speziell für die Spendengelder gedruckt und mit einem großen runden Stempel des Klosters versehen worden waren. Dann klemmte sie sich noch einmal ans Telefon, und es gelang ihr, vier Freundinnen zu überreden, ebenfalls dem Wat Thai eine bestimmte Summe zu spenden, so daß sie anschließend einigermaßen mit sich zufrieden sagen konnte: „Ich habe 2400 DM gespendet, that is good!“ Früh am nächsten Morgen nahm sie sich von ihrem letzten Geld ein Taxi und fuhr ins Kloster, wo sie dann wie immer guter Dinge war, wenn auch vielleicht etwas stiller und zweifelnder als sonst. Das fiel aber nur denen auf, die in den Wochen davor näher mit ihr zu tun gehabt hatten. Im übrigen war es an diesem 6. Juni sehr voll im Wat Thai, so daß niemand groß auf irgendwelche Feinheiten achtete. Weil alles so gut geklappt hatte, fuhr sie gleich im Anschluß an den Wat- Thai-Besuch in den Prenzlauer Berg Club. Ihr Bekannter muffelte zwar, weil er ihr mitten in der Nacht noch Handtücher und Schminksachen vorbeibringen mußte, aber ihre wiedergewonnene herrische Art und Entschlossenheit beruhigte doch auch ihn. Selbst ihre Kinder atmeten auf, wenn oder weil auch sie sogleich wieder streng ermahnt wurden.

Dem Recht auf Glück im Sinne der (Wieder-)Herstellung einer „Balance“ in der Berliner Ökonomie, und sei es mittels „magisch- statischer Schläue“, war mal wieder Genüge getan worden. Wenn auch in diesem Fall quasi im letzten Moment und mit Hängen und Würgen. Nach ihrer Rückkehr aus Bangkok fing sie wieder in verschiedenen westdeutschen „Clubs“ an zu arbeiten, mit dem Unterschied, daß sie nicht mehr jedesmal jemand mit dem Auto hin und her kutschieren mußte: sie besaß jetzt eine Bahncard. Ihre beiden Kinder kamen aufs Gymnasium, dann zog die Tochter jedoch in eine Mädchen-WG, und der Sohn fing an, die Schule zu schwänzen. Auch mit der Künstlersozialversicherung, denen sie eine Kassette mit einem selbstkomponierten Lied über ihre Jugend in Bangkok geschickt hatte, um anerkannt zu werden, klappte es nicht.

Sie bat einige ihrer deutschen und türkischen Freunde, sich nach einem leerstehenden Laden umzuschauen, in dem sie ein Import-Export-Geschäft mit Thai-Textilien eröffnen wollte. Einer meinte: „Sie fängt 1000 Sachen an, macht aber kein Projekt zu Ende!“ Das ist übertrieben. Anfang 1997 eröffnete sie zusammen mit ihrer Schwester und zwei anderen Frauen einen „Thai-Massage- Club“ namens „Sun“ – in der Schönhauser Allee 26, Telefon: 030-441 02 24. Ende Februar bat sie mich, dafür Werbung zu machen: „We have no money!“ Dies ist hiermit geschehen – wobei das Wie wiederum typisch ist für die Berliner Ökonomie. Quod erat demonstrandum!

Im Rahmen der Buchmesse findet am 21.3. um 20 Uhr in der Leipziger Universitäts-Buchhandlung eine Lesung mit Helmut Höge und Mathew Rose („Berlin – Hauptstadt von Filz und Korruption“) statt.

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