: Überhöhte Erwartungen
■ Tony Blair und die EU – ein schwieriges Verhältnis
Die EU erwartet von dem neuen britischen Regierungschef eine enthusiastischere und in Teilen gefügigere Haltung zur europäischen Integration. Blair sieht in der EU ein Forum zur politischen Darstellung; er will Europa seinen Stempel aufdrücken und, wie es Außenminister Robin Cook sagt, Großbritannien an seinen „rechtmäßigen Platz“ unter den drei großen Führungsnationen Westeuropas – neben Deutschland und Frankreich – zurückbringen.
Auf beiden Seiten blüht ein gehöriges Maß Phantasie. Die EU hält es für den natürlichen Lauf der Dinge, daß ein europäisches Land nach dem anderen sich ihrer Karawane anschließt, und will sich dabei unter keinen Umständen beirren lassen. Labour hängt offenbar noch den alten Projektionen aus der euphorischen Nachkriegszeit an, als die Siegermacht Großbritannien sich als Führer Europas begriff und sich wunderte, wenn Kontinentaleuropäer das nicht bemerkten.
So erscheint es unvermeidlich, daß diese beiden Ansichten demnächst unsanft aufeinanderprallen werden. Blair hat dabei die schlechteren Karten, denn der Zeitplan ist vorbestimmt. Nach dem EU-Sondergipfel in drei Wochen folgt einen Monat später der Abschluß der Regierungskonferenz zur Revision der Maastrichter Verträge. Viel Zeit läßt das nicht, und das Gerangel an der Labour-Spitze über die Ernennung eines Europa-Staatssekretärs zeigt, daß in London ein gewisses Maß an Aufgeregtheit herrscht. Aber auch das französisch-deutsche Tandem an der Spitze der EU sollte mehr tun als sich einfach zurücklehnen und darauf warten, daß die Briten kommen.
Das Großbritannien, das Labour übernimmt, ist in besserer ökonomischer Verfassung als der Rest Europas, und so ist der Sinn eines britischen Anschlusses an das EU-Einigungsprojekt keineswegs klar. Auch britische Befürworter der Währungsunion plädieren offen für eine Verschiebung, aus pragmatischen Gründen. Blairs überragender Sieg und die anstehenden Wahlen in Frankreich müßten nun auch in der deutschen Politik ein wenig Bewegung entfachen. Eine offene Diskussion über Vor- und Nachteile und mögliche Folgen der Währungsunion, die in Großbritannien und Frankreich längst geführt wird, wäre ein Anfang. Dominic Johnson
Bericht Seite 9, Debatte Seite 10
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen