Nicht von schlechten Eltern

Der Verein „gleich und gleich“ bietet betreute Wohngemeinschaften für homosexuelle Jugendliche, die ihr Elternhaus verlassen müssen  ■ Von Holger Wicht

Als Steffen von zu Hause abgehauen war, ging es ihm gut: „Endlich hatte ich einfach die Tasche gepackt.“ Mitnehmen konnte der 19jährige in der Eile nur das Nötigste: „Ein paar Klamotten halt, egal ob dreckig oder sauber, Schulsachen, Papiere. Dann bin ich in die Schule gegangen – ich war überglücklich.“

An jenem Morgen war Steffen allein gewesen mit seinem Stiefvater. Seine Mutter, die immer versucht hatte, ihn in Schutz zu nehmen, war schon bei der Arbeit. „Da fing er wieder an, Terror zu machen, mit Türen zu knallen, meine Sachen zu durchwühlen, erinnert sich Steffen. Und auf einmal haute der Stiefvater es raus: „Schwule Sau!“ Eine Stunde später war endlich alles vorbei.

Einige Monate hat Steffen überhaupt nicht über seine Geschichte gesprochen. Jetzt sprudelt es nur so aus ihm heraus. Er erzählt von seinem Leistungsabfall in der Schule und von seinem Nervenzusammenbruch, von den Vertrauenslehrerinnen, die ihn unterstützt haben, und von den Beruhigungsspritzen bei seinem Hausarzt. Manchmal unterbricht Steffen sich, geht nervös ein paar Schritte umher und tritt an das Fenster der frisch sanierten Friedrichshainer Altbauwohnung, deren Adresse nicht einmal seine Mutter kennt. Hier ist sein neues Zuhause: eine Wohngemeinschaft für schwule und bisexuelle Jungen, die ihr Elternhaus verlassen wollen – oder es verlasssen müssen.

Die betreute WG des Vereins „gleich und gleich“, organisiert im Jugendnetzwerk Lambda, gibt es seit Dezember vergangenen Jahres, ein Pendant für lesbische Mädchen existiert in Kreuzberg schon seit Juli. Die Wohnungen bieten jeweils fünf Jugendlichen Platz.

Die Jungen haben ihre Wände mit Collagen geschmückt: einer Reportage aus der Bravo: „Wir sind schwul!“, Briefen an Dr. Sommer, einem großkopierten Ausriß aus dem Wörterbuch: „gay: 1. lustig, fröhlich, 2. bunt, (farben)prächtig“. In ihrer Wohnung können sie sich einrichten und leben, wie sie wollen. In einem pädagogisch sinnvollen Rahmen, versteht sich. Ein Sozialpädagoge und ein Erzieher schauen täglich nach dem Rechten.

Und die beiden haben reichlich zu tun: Neben ausführlichen Gesprächen mit den Jugendlichen müssen sie die knappen Mittel möglichst effektiv einsetzen. Die Wohngemeinschaft wird ausschließlich durch Tagessätze finanziert, die das jeweils zuständige Jugendamt für die Bewohner zahlt – nachdem es den Einzug genehmigt hat. Weil auch die Jugendämter sparen müssen, tun sie sich schwer mit solchen Genehmigungen. „Die Jugendlichen werden in absoluten Notsituationen vollkommen im Regen stehengelassen“, berichtet Linus Langer, einer der beiden Betreuer, die selber offen schwul leben und wissen, wie schwer man es bei seinem Coming-out haben kann. In so mancher Überstunde helfen die Pädagogen, wo sie können. Offiziell sind sie vor der Einzugsgenehmigung noch nicht zuständig. Eigentlich ist niemand so richtig zuständig für die Jugendlichen.

Gerade hat Manuel angerufen. Es scheint, als habe er den langen Kampf gegen „sein“ Jugendamt endlich gewonnen. Dienstag vor Ostern hat der 17jährige seinem Elternhaus den Rücken gekehrt. „Mein Vater hat immer gewettert, er wolle kein Mädchen großziehen – bloß weil ich gern enge Shirts und Plateauschuhe trage. Er hat mir sogar unterstellt, ich würde Krankheiten mit nach Hause bringen und Pornofilme drehen.“ Geschlagen habe sein Vater ihn aber nicht, sagt Manuel zögerlich, als wolle er sich entschuldigen. Immer wieder hat er begründen müssen, warum seine Geschichte tragisch genug ist. Dabei hat er es einfach nicht mehr ausgehalten und wollte nur noch weg.

Manuel suchte Hilfe beim Jugendamt. Und wurde abgewiesen: „Der Sachbearbeiter hatte ab dem nächsten Tag Urlaub und wollte vor Ostern keine Entscheidung mehr treffen.“ Allzu schlimm könne die Situation zu Hause doch wohl nicht sein. „Wenn du's nicht mehr aushältst“, zitiert Manuel, „mußt du halt zum Jugendnotdienst.“ Und weil Manuel es nicht mehr aushielt, ging er zum Jugendnotdienst. Er wurde vorübergehend in einer Übernachtungseinrichtung untergebracht.

Als der Sachbearbeiter aus dem Urlaub zurück war, brauchte Manuel für den Einzug bei „gleich und gleich“ die Einwilligung seiner Eltern. „Ich habe meine Mutter angerufen und gesagt, daß ich sonst doch nur wieder abhaue. Da hat sie dann zugestimmt – weil ich sonst auf der Straße gelandet wäre.“

In der Wohngemeinschaft möchte Manuel nun Abstand gewinnen. „Erst mal alles abkühlen lassen. Was mein Vater mir an den Kopf geworfen hat, kann ich nicht vergessen, aber vielleicht verstehe ich mich irgendwann mit meiner Mutter wieder besser.“ So wie Thomas, der im Dezember als erster in der Wohngemeinschaft von „gleich und gleich“ eingezogen ist, nachdem seine Mutter ihn auf die Straße gesetzt hatte. Kürzlich jedoch hat sie ihren Sohn das erste Mal in seinem neuen Zuhause besucht.

„gleich und gleich“ ist zu erreichen über „Lambda Berlin“, Telefonnummer 2827990