: Die Blutklage gegen die Juden von Trient
Bis 1965 verehrten Katholiken den heiligen Simon. Das Kind sollen die Juden von Trient 1475 getötet haben. Der US-Historiker R. Po-Chia Hsia hat jetzt eine brillante Geschichte des Ritualmordprozesses geschrieben ■ Von Julius H. Schoeps
Die Ritualmordbeschuldigung wird seit dem Mittelalter – hauptsächlich in der Passah-Zeit – mit der Behauptung erhoben, Juden verwendeten zum Backen der ungesäuerten Brote (mazzot) das Blut geschächteter Christenkinder. Die bis heute einleuchtendste Erklärung für die damals sehr populären Beschuldigungen ist, daß sie von der jungen christlichen Kirche bewußt als Abgrenzungsmaßnahme gegen die Juden und das Judentum eingesetzt worden sind.
Prominenteste Opfer einer der zahlreichen Ritualmordbeschuldigungen wurden 1475 alle Mitglieder der Jüdischen Gemeinde zu Trient. Der Fall ist spektakulär, weil er bis in die Gegenwart nachwirkt. Aber nicht nur deshalb. An diesem Fall kann nämlich nicht nur die Leidensgeschichte einer kleinen jüdischen Gemeinde in der christlichen Umgebung des Spätmittelalters gezeigt, sondern darüber hinaus belegt werden, daß ein direkter Zusammenhang zwischen Blutklage und christlicher Frömmigkeit besteht.
Der Vorwurf der rituellen Kindstötung, die im Diskurs um das Opfer Christi zunehmend eine Rolle zu spielen begann, verband die schwarze Magie mit dem Schreckgespenst kannibalischer Rituale. Beschuldigt wurden Ketzer, Hexen und vor allem Juden, die man meinte bekämpfen zu müssen, weil sie die geborenen Feinde der Christen seien.
Wie der zweijährige Simon tatsächlich am Gründonnerstag 1475 ums Leben kam, ist nie ganz geklärt worden. War es wirklich ein Mord, wie die zeitgenössischen Quellen behaupten? Oder war es ein schlichter Unglücksfall? Fest steht: Nachdem die Leiche am Ostersonntag im Haus der größten jüdischen Familie gefunden wurde, wurden die Juden von Trient für den Tod des Jungen verantwortlich gemacht.
Die judenfeindliche Stimmung entzündete sich vermutlich nicht von selbst, sondern wurde durch die Fastenpredigten des Bernardino da Feltre angefacht. Dieser, ein zwielichtiger Franziskanermönch, war Ostern 1475 in die Stadt gekommen und hatte gegen den Zinswucher der Juden gewettert sowie die Christen gerügt, daß sie mit diesen Umgang hätten. Später erinnerte man sich, er hätte prophezeit, daß bald ein Unglück über die Stadt hereinbrechen würde.
Wie es zu der Tragödie kam, in deren Gefolge die Juden der Stadt Trient kollektiv des Ritualmordes beschuldigt, in den Kerker des Buonconsiglio gesperrt und ihnen dann der Prozeß gemacht wurde, schildert im einzelnen das brillant geschriebene Buch des US-Historikers R. Po-Chia Hsia. Er lehrt an der New York University Europäische Geschichte mit dem Schwerpuntk Religions- und Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit. Po- Chia Hsias Studie stützt sich auf eine sensationelle Quellensammlung, die sich seit 1988 in der Bibliothek der New Yorker Yeshiva University befindet und vorher niemals ausgewertet wurde. Der in deutscher Sprache verfaßte zeitgenössische Bericht beschreibt auf 614 Seiten den Prozeßverlauf, dokumentiert das Verhalten der Angeklagten, der Gerichtspersonen und der Kirchenvertreter.
Die Geständnisse der insgesamt neunzehn angeklagten Männer und vier Frauen erfolgten alle unter der Folter, bei strafrechtlichen Untersuchungen im Mittelalter ein anerkanntes Verfahrensmittel. Es gab dabei zahlreiche Foltermethoden, die je nach Vergehen angewandt wurden. Die berüchtigste war die sogenannte strappada, bei der dem Opfer mit einem langen Seil die Hände hinter dem Rücken zusammengebunden und dann mittels eines Flaschenzugs nach oben gezogen wurden. Das Opfer, mehrere Fuß über dem Boden hängend, wurde dann vom Podestà befragt. Ein „Blutschreiber“ zeichnete den Wortwechsel auf. Verweigerte das Opfer das erwartete Geständnis, ließ der Folterknecht das Seil plötzlich los, um es dann wieder ruckartig anzuziehen. Im Yeshiva-Manuskript heißt es, daß man „den Gefangenen hat springen lassen“.
Im Untersuchungsverfahren von Trient erwartete der Richter von den Juden nicht nur das Geständnis, daß sie den kleinen Simon gemartert und getötet hatten. Sie sollten auch eingestehen, daß in jüdischen Riten christliches Blut verwendet werde. Von den zunächst fünfzehn festgesetzten Mitgliedern der jüdischen Gemeinde wurden elf der strappada unterzogen. Sie beteten, wehklagten, schrien vor Schmerz, wußten, am Seil hängend, aber nicht, was sie gestehen sollten. Letztlich war dies auch gleichgültig, das Urteil stand von vornherein fest.
Der Richter forderte in den Verhandlungen von den Angeklagten, daß sie die „Wahrheit“ bekennen sollten. Aber was war die Wahrheit? War sie nur das, was der Richter und seine Helfer hören wollten? Es war sinnlos, irgendeine Schuld zuzugeben. Diese hätte den Inquisitor nicht zufriedengestellt. Den Angeklagten waren im Prozeß bestimmte Rollen zugedacht worden, die sie zu spielen hatten. „Sagt mir“, so einer der fast bis zum Irrsinn Gequälten, „was ich sagen soll, so will ich es sagen.“
Der letzte Akt des Dramas war die öffentliche Hinrichtung der Männer, die in mehreren Phasen nach einem vorgegebenen Ritual ablief. Die Frauen ließ man, nach einer demütigenden Zwangstaufe, am Leben. Zwischen dem 21. und 23. Juni 1475 wurden neun der zum Tode Verurteilten auf einem Karren zum Hinrichtungsplatz jenseits des Stadttores gefahren. Auf dem Weg dorthin wurden sie von einer gaffenden Menge, die das Schauspiel des Grauens nicht nur genoß, sondern geradezu auch als Erlösungsdrama begriff, bespuckt und beschimpft. Teilweise riß man den Verurteilten auf dem Weg zum Hinrichtungsplatz mit Zangen das Fleisch vom Leib.
Am Hinrichtungsplatz wurden die Verurteilten unter dem Johlen der Zuschauer zum dort errichteten Scheiterhaufen gezerrt; dann wurden sie festgebunden und bei lebendigem Leib verbrannt.
Angesichts der Qualen ihrer Glaubensbrüder baten zwei der zum Tode Bestimmten in letzter Minute um die Taufe, in der Hoffnung, sie würden so ihr Leben retten können. Vergeblich. Man setzte die Hinrichtung aus, vollzog am folgenden Tag die Taufe, dann köpfte man die beiden Neuchristen und verbrannte sie post mortem.
Obgleich der päpstliche Stuhl in Rom durch einen Gesandten hatte intervenieren lassen, nahmen die Verfolgungen der Juden kein Ende. Nach einer zweiten Prozeßwelle gegen die im Sommer 1475 noch verschonten Männer kam es Anfang 1476 zu einer erneuten Reihe von Hinrichtungen. Zwei Juden wurden verurteilt und starben am Galgen. Ein gewisser Israel wurde als „Dieb, Christenblutesser und -trinker, Vergifter, Verräter und Feind Christi“ auf das Rad geflochten und dann verbrannt.
Zu einer gespenstischen Szene kam es, als zwei Angeklagte unter dem Galgen vom Domherrn gefragt wurden, ob sie im Glauben an Christus zu sterben gedächten. Beide wußten sich in ihrer Not nicht anders zu helfen, als mit Ja zu antworten. Bevor sie mit dem Strick um den Hals starben, hörten sie den Rat, auf Christus und die Heilige Jungfrau zu vertrauen und sich vor Augen zu halten, wie kurz das irdische Leben im Vergleich zur ewigen Erlösung sei.
Verantwortlich für die Hinrichtungsorgien war Johannes Hinderbach, der zu dieser Zeit Trient als Fürstbischof regierte. Er war es, der den Prozeß anstrengte, die judenfeindlichen Gewaltausbrüche anstachelte und von der Idee der Kanonisierung des „Klein Simon“ geradezu besessen war.
Den Aufstieg des Märtyrers zum Heiligen erlebte er jedoch nicht mehr. Papst Sixtus V. erteilte erst 1588 „Klein Simon“ die päpstlichen Weihen. Dennoch, die Legende von Simons „Martyrium“, die mit Tod und Auferstehung Jesu Christi gleichgesetzt wurde, breitete sich schon ab 1476 sehr schnell aus und schlug sich in Gedichten, Hagiographien, Gemälden und anderen ikonographischen Darstellungen nieder.
Dieser Simonskult wurde erst 1965, nach Beendigung des Zweiten Vatikanischen Konzils, durch ein päpstliches Dekret offiziell abgeschafft. Das half jedoch wenig. Die Volksfrömmigkeit hielt am Simonskult fest, und die Prozessionen gingen weiter. Schließlich mußten die noch vorhandenen Reliquien in Trient beiseite geschafft und der zuständige Bischof ein Machtwort sprechen.
Ob die über die Jahrhunderte in Umlauf befindlichen Geschichten über Wunder, Tod und Auferstehung des kleinen Simon ihre Zauberkraft verloren haben, ist zu bezweifeln. Hier stimmt nämlich eine Nachricht nachdenklich. Sie hat mit der Ausstellung „Die Macht der Bilder. Antijüdische Mythen und Vorurteile“ zu tun, die 1995 in der Volkshalle des Wiener Rathauses gezeigt wurde. Die Kuratorin, die sich beim zuständigen Bischof um die Ausleihe einiger Simon-Reliquien bemühte, erhielt eine Absage. Man könne, so die Begründung, diese heute der Öffentlichkeit entzogenen Reliquien nicht ausleihen, denn es sei zu befürchten, daß dann Wallfahrten von nach wie vor vorhandenen Simon-Verehrern in die Ausstellung einsetzen würden.
R. Po-Chia Hsia, „Trient 1475. Geschichte eines Ritualmordprozesses“. Aus dem Amerikanischen von Robin Cackett, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 223 Seiten samt Anhang, 38 DM.
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