: Voll aus dem Leben
Der Film „Kardesler – Geschwister“ von Thomas Arslan handelt von drei deutschtürkischen Jugendlichen in Berlin. Statt eines pauschalen Abbilds einer Generation zeigt der Regisseur feinsinnige Porträts ■ Von Daniel Bax
HipHop am Himmel über Berlin, Deutschland am Morgen. Ahmed spuckt vor die einfahrende U-Bahn, Erol stärkt sich mit Krafttraining, und Leyla sitzt schon an der Nähmaschine. Erol, Ahmed und Leyla sind Geschwister. Sie wohnen bei ihren Eltern, der Vater Türke, die Mutter Deutsche, und jeder geht seine eigenen Wege. Erol, mit 20 der Älteste, hat die Schule abgebrochen und lebt ziellos in den Tag hinein. Sein Bruder Ahmed, mit dem er das Zimmer teilt, geht aufs Gymnasium und bereitet sich auf das Abitur vor. Leyla, die jüngste der drei, macht eine Schneiderlehre.
Die Situation der drei Geschwister ist eigentlich wenig anders als die gleichaltriger Deutscher. Doch ein Film, der drei türkische Jugendliche in Kreuzberg porträtiert, weckt fast zwangsläufig die Erwartung, damit stellvertretende Aussagen über „die“ türkische Jugend in Deutschland zu treffen. Zum einen, weil der sogenannten zweiten Generation gemeinhin eine Homogenität unterstellt wird, die sie in Wirklichkeit überhaupt nicht besitzt. Andererseits, weil sich manche Regisseure gerne „typischen“ Migrantenproblemen widmen, um daraus filmische Parabeln zu basteln.
„Ich halte dieses Repräsentativ- sein-Müssen für eine gefährliche Sache“, wehrt Thomas Arslan, der Regisseur von „Geschwister“, solch ein Ansinnen ab: „Es gibt genug dieser medialen Repräsentanten wie den türkischen Gemüsemann, die gleichzeitig für eine ganze Kultur stehen. Das läuft in vielen Filmen oft auf die üblichen Stereotype hinaus wie: ,Kopftuch ja oder nein‘ und 'Zwangsheirat ja oder nein‘. Mein Film ist insofern eher untypisch für ein bestimmtes Türkenbild.“ Wer also unterwürfige Koranschülerinnen und martialische Türkengangs erwartet, wird entäuscht.
„Geschwister“ ist eine sensible Skizze jugendlicher Identitätssuche, mit Sympathie, aber ohne falsch verstandenen Paternalismus den eigenen Figuren gegenüber. Gerade weil „Geschwister“ gar nicht erst den Anspruch erhebt, mehr als eine kleine, unprätentiöse Geschichte erzählen zu wollen, wirkt er Lichtjahre überzeugender als alle gewollt authentischen Milieustudien. Zugleich ist er für einen deutschen Film, der keine Komödie sein will, von einer überraschend unterhaltsamen Leichtigkeit. Ein beiläufiger, seine Protagonisten scheinbar bloß begleitender Straßenfilm, ein Roadmovie, nur eben ohne Auto, mit detailverliebt plazierter Musik im Hintergrund. Ein Glücksfall.
Erol schlägt sich mehr schlecht als recht durchs Leben und schuldet aller Welt Geld. So verwundert es nicht, daß er, als ihm aus der Türkei der Einberufungsbefehl ins Haus flattert, die Gelegenheit ergreift, der drückenden Langeweile zu Hause zu entkommen. „Als Türke mußt du Militärdienst in der Türkei machen“, erklärt er seiner Mutter knapp, die von solchen An- und Aussichten wenig begeistert ist. Auch sein Bruder Ahmed erklärt ihn kurzum für schwachsinnig, als er von Erols Entschluß erfährt. Nur sein Vater unterstützt Erol, „unseren Soldaten“, rückhaltlos – denn „was in deutschen Zeitungen steht, ist sowieso nur Propaganda“. Leyla, die Schwester, entzieht sich den häuslichen Streitereien, indem sie sich zu ihrer besten Freundin Sevim flüchtet, mit der sie am liebsten nach der Ausbildung zusammenziehen möchte. Sie, das Mädchen, ist eigentlich der selbstbewußteste Charakter des Films. Als der junge Cem ihr Aufwartungen macht, läßt sie ihn erst cool abblitzen, um ihm später anzuvertrauen: „Du bist zwar nicht mein Typ, aber irgendwie gefällst du mir.“ Und obwohl sie weiß, daß ihr Vater dem kaum zustimmen wird, fragt sie ihn geradeheraus um die Erlaubnis, mit Cem übers Wochenende wegzufahren – eine Frage, die der fassungslose Vater, auf solche Offenheit nicht vorbereitet, am Ende nur noch mit einer Ohrfeige zu beantworten weiß. Familienkrach.
Nicht nur ihre Eltern sind zerstritten. Auch Erol und Ahmed, das ungleiche Brüderpaar, liegen sich trotz untergründiger Zuneigung ständig in den Haaren. Immer geht es dabei auch um Zugehörigkeiten: Erol wirft Ahmed, den er um dessen scheinbar müheloses Zurechtkommen im Leben beneidet, vor, verdeutscht zu sein: „Als würdest du dich schämen, einen türkischen Vater zu haben.“ Und als Erol mit seinen Freunden auf zwei rechte Jugendliche trifft und über sie herfällt, sein Bruder ihm dabei aber nicht zur Seite springt, schlägt er ihn hinterher für seinen Mangel an Loyalität.
Erol, der sein Scheitern mit einem diffusen Nationalismus zu kompensieren versucht, flüchtet sich vor den Enttäuschungen des Alltags in die Eindeutigkeit eines imaginären Türkentums. Gerade als Halbdeutscher will er ein richtiger Türke sein: „Ich will jemand sein, den man respektiert.“ Ahmed hingegen hält sich von seinem türkischen Umfeld eher fern und hat die Normen der Mehrheitsgesellschaft schon verinnerlicht: In einer Szene beobachten die beiden Brüder, wie ein Türke mit offenem Cabrio und lärmender Arabesk- Musik vor einem Café bremst. Nur Erol findet das cool, Ahmed ist so was sichtlich peinlich.
Manches an autobiographischer Erfahrung dürfte wohl in die Story von „Geschwister“ eingeflossen sein, schließlich ist Thomas Arslan selbst „halb türkisch, halb deutsch“ aufgewachsen. Vor allem aber lebt der Film von der Präsenz seiner jugendlichen Darsteller. Trotz langwieriger Suche, bei dem in Schulen und Jugendzentren Darsteller gecastet, in Zeitungen Anzeigen geschaltet und im türkischen Radio Aufrufe gestartet wurden, liefen Thomas Arslan die passenden Personen eher zufällig über den Weg. Den Musiker Tamer, den er schon vom Sehen kannte, sprach Thomas Arslan nach einem Konzert an, gab ihm die Rolle des „Erol“ und seinem Freund Savas die des „Ahmed“. Die Rolle der „Leyla“ wurde hingegen erst eine Woche vor Beginn der Dreharbeiten besetzt, als man die Suche nach einer geeigneten Darstellerin schon fast aufgegeben hatte. Die damals erst 16jährige Serpil, die zufällig von Bekannten von dem Filmteam erfahren hatte und vorbeikam, als man schon am zusammenpacken war, wurde buchstäblich in letzter Minute vom Fleck weg engagiert.
Die Laienschauspieler spielen sich natürlich nicht selbst, aber ihre Persönlichkeit floß doch erheblich in ihre Rollen ein. Identisch sind sie deswegen nicht: „Ich bin nicht so ein Losertyp wie Erol. Ich bin kämpferischer, nicht so selbstmitleidig“, stellt Tamer den Unterschied zur Filmfigur klar. Andererseits läßt der energische 22jährige Strubbelkopf keinen Zweifel daran, daß er wegen seiner Lebenserfahrung für die Rolle des Erol wie geschaffen war: „Dieses Straßending haben wir schon gemeinsam“, sagt er und unterstreicht seine Worte, indem er sich mit festem Blick nachdrücklich über den krausen Kinnbart streicht. Tamer hat selbst schließlich die Schule abgebrochen, weil „ich mir nichts vorschreiben lassen wollte“, und sich mit seinen Freunden im Kreuzberger Kiez herumgetrieben. Zudem fand er mehr Gefallen am Musikmachen. Die Schulbank zu drücken entsprach einfach nicht seinen Vorstellungen von einem richtigen Rock-'n'-Roll- Lebensstil.
Nach mehreren Zwischenspielen als DJ und Sänger in diversen HipHop-Projekten bringt er sich nun gleich in zwei Hardcore-Rockbands ein – in der einen singt er auf englisch, in der anderen, Hasret, auf türkisch. Die Band Hasret wurde praktisch während der Dreharbeiten zu „Geschwister“ geboren, als Tamer in einer Pause gelangweilt auf einer herumliegenden Gitarre spielte und mit seinem Freund Ramazan, der in dem Film eine kurze Nebenrolle als Drogendealer besetzt, den Entschluß faßte, eine türkische Rockband zu gründen. Vorbilder fand er in der Plattensammlung seines Vaters mit türkischen Rockern der siebziger Jahre, wie Baris Manco und Erkin Koray.
Für Tamer sind das die Bezugspunkte, an denen er sich orientiert. Das Gros türkischer Popmusik jedoch findet keine Gnade vor ihm – bis auf Sezen Aksu, die ist schließlich „old school“. In einer türkischen Discothek, wo sich ein guter Teil seiner Altersgenossen an Wochenenden in Schale wirft, war er deswegen nur ein einziges Mal: „Ich fühl mich da total fremd.“
Seine Filmschwester Serpil hat da weniger Vorbehalte: „Früher, vor zwei Jahren, als es die ersten türkischen Discotheken gab, bin ich da öfters hingegangen. Es hat Spaß gemacht, zu türkischer Popmusik zu tanzen. Heute gehe ich aber lieber in HipHop-Läden. Was ich aber immer noch mag, sind türkische Hochzeiten. Ich liebe diese Folkloremusik und tanze gerne dazu“, schwärmt sie. Und für noch etwas kann sie sich begeistern: „Ich liebe diese schönen, alten, türkischen Schwarzweißfilme, die ab und zu im Fernsehen laufen.“ Früher hat die lebhafte 17jährige, die sich in legeren Sportklamotten und Turnschuhen am wohlsten fühlt, auch gesprüht, „aber ich hasse diese Sprüherszene. Da herrscht ein krasser Konkurrenzkampf, gerade unter den Mädchen.“
Zur Zeit liest sie die Biographie des Berliner Sprühers Odem – „da kommt unsere Gruppe auch drin vor“ – und daneben ein Buch über Aleviten. Sport ist ihr im Augenblick jedoch das Wichtigste: Sie spielt Basketball und verfolgt inbrünstig die NBA-Liga. Serpil wohnt noch bei den Eltern. Am liebsten aber verzieht sie sich nach der Schule in die Leseecke der Stadtbücherei, bevor sie nach Hause geht: „Wenn ich nach Hause gehe, will ich nur schlafen und essen. Es läuft besser, wenn ich meinen Vater weniger sehe.“
Im Sommer will sie zu ihrer älteren Schwester ziehen, die eine eigene Wohnung hat. Ihre Schwester hat sich die Freiräume erkämpft, von denen Serpil heute profitiert: „Meine Schwester hat mich sehr geprägt. Ohne sie würde einiges anders aussehen.“ Ihre Eltern, glaubt sie, seien dadurch toleranter geworden: „Sie haben dazugelernt. Nur in einem Punkt sind sie voll streng: Wenn ich heirate, muß es ein Alevit sein.“ Aber, ist sie überzeugt: „Wenn ich mich morgen in einen Schwarzen verliebe, dann muß ich das eben durchziehen.“
Tamer, der bereits vor vier Jahren von zu Hause ausgezogen ist, hat die Emanzipation vom Elternhaus schon hinter sich: „Ich liebe meine Eltern, aber sie müssen mich auch akzeptieren, wie ich bin. Ich würde für meine Eltern nicht mit dem Rock'n'Roll aufhören oder mich anders anziehen, nur weil die Bekannten lästern.“ Er ist kürzlich zu seiner Freundin in den ehemals Ostberliner Bezirk Mitte gezogen – eine ganz neue Erfahrung, denn da gibt es so gut wie keine anderen Türken. Zum Auftritt seiner Band im dortigen Kunsthaus Tacheles hat er deswegen seinen jüngeren Bruder mitgenommen. „Ich will ihm zeigen, daß es noch anderes gibt, als in Kreuzberg auf der Straße rumzuhängen.“
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