: Bonn zeigt Familien die kalte Schulter
■ 73 Deutschstämmige „verschwanden“ in Argentinien in den Jahren 1976 bis 86. Die Bundesregierung mischte sich nicht ein
Auf den schlechten Kopien der beiden Fotos ist ein Mann mit Schnauzbart zu erkennen. Er wurde, wie bei Gefangenenfotos üblich, einmal von vorne und einmal von der Seite abgelichtet. „Genau dieses Sakko trug er, als sie ihn aus der Wohnung schleppten“, erinnert sich Ida Tatter und zeigt auf die Bilder. Ihr Mann Federico ist einer der 73 Deutschen und Deutschstämmigen, die während der argentinischen Militärdiktatur (1976–1986) „verschwanden“, das heißt entführt und ermordet wurden. Am 15. Oktober 1976 standen die Militärs vor der Tür, um ihn abzuholen. „In zwei Stunden ist er wieder zurück!“ rief einer der Soldaten Ida Tatter noch zu. Sie hat ihren Mann nie wieder gesehen.
Federico Tatter war mit seiner Frau und den Kindern von Paraguay nach Argentinien geflüchtet, nachdem er in Paraguay mehrere Male im Gefängnis gesessen hatte. Er stand im Dienst der paraguayischen Armee, widersetzte sich aber den Putschgelüsten seiner Vorgesetzten. „Er war der Ansicht, daß sich das Militär aus politischen Dingen heraushalten sollte“, erinnert sich Ida Tatter.
Nach der Entführung ihres Mannes klapperte sie sämtliche Institutionen ab, um ihn wiederzufinden. Die Militärregierung reagierte zynisch. Nein, ihr Mann sei niemals festgenommen worden. Aber beide seien doch schon lange verheiratet gewesen – bestimmt sei er mit einer anderen durchgebrannt. Erst zwei Monate nach der Entführung bat Ida Tatter die deutsche Botschaft in Buenos Aires um Hilfe. Da er als Sohn deutscher Einwanderer aus Solingen die deutsche Staatsbürgerschaft hatte, hoffte Ida Tatter, die Botschaft würde ihr helfen können. „In der Botschaft waren die Leute immer sehr diplomatisch“, stellt sie heute fest. Doch die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Argentinien und Deutschland verhinderten eine Einmischung der Bundesregierung. „Hätten sie damals was unternommen, hätten sie Menschenleben retten können. Andere Regierungen, die Druck auf die Militärs ausgeübt haben, haben einige Verschwundene freibekommen“, weiß Tatter.
Während die spanische, italienische, schwedische und französische Regierung heute versuchen, Prozesse gegen argentinische Militärs anzustrengen, die Staatsbürger dieser Länder ermorden ließen, hält man sich in Deutschland zurück. „Die Bundesregierung hat leider bis heute nichts unternommen, um das Schicksal der 73 verschwundenen Deutschen zu klären“, bedauert auch der argentinische Friedensnobelpreisträger Adolfo Pérez Esquivel. „Die Regierung in Bonn hat doch eine Verantwortung gegenüber jedem ihrer Bürger, auch gegenüber denen, die in Argentinien leben.“ Aber nicht nur das: „Alle Länder, die Mitglied der UNO sind, haben nach internationalem Recht die Pflicht, die Verantwortlichen vor Gericht zu stellen. Auch diejenigen, die gerade nicht auf ihrem Staatsgebiet sind“, wirft Pérez Esquivel ein. Die deutsche Justiz müsse daher die für das „Verschwinden“ Verantwortlichen vor Gericht stellen.
Jetzt bittet Ida Tatter die deutsche Regierung um Geld für ein Gerichtsverfahren. In Paraguay ist in einem Archiv der Streitkräfte das Bild ihres Mannes gefunden worden. Das bedeutet, daß er nach seiner Verschleppung den paraguayischen Henkern übergeben wurde. Auf dem Foto hat Federico genau die Jacke an, die er am Tag seiner Entführung trug. Die Militärdiktaturen von Argentinien, Chile, Uruguay und Paraguay haben sehr eng zusammengearbeitet und ihre Gefangenen regelmäßig untereinander ausgetauscht. Ida Tatter will in der paraguayischen Hauptstadt Asunción einen Prozeß anstrengen, um das Schicksal ihres Mannes zu klären. „Und damit der Schuldige bestraft wird.“
Im Herbst 1997 wird Ida Tatter mit einer Gruppe von Angehörigen deutscher Verschwundener nach Bonn kommen, um die deutsche Justiz dazu zu bewegen, sich der 73 Verschwundenen anzunehmen. „Wir wollen herausfinden, was mit den Leuten geschehen ist“, so Stella Ageitos, die Anwältin der Angehörigen der Verschwundenen. Ob Ida Tatter wie 1983 dann wieder vom Bundeskanzler empfangen wird, ist unwahrscheinlich. Damals hatte ihr Helmut Kohl Unterstützung zugesagt – und Ida Tatter hatte ihm geglaubt. Ingo Malcher, Buenos Aires
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