Berlin setzt Kinderflüchtling aus

Zwölfjähriges Waisenkind nach Vietnam abgeschoben. Zum Weltkindertag greift Pro Asyl den Fall auf  ■ Von Marina Mai

Berlin (taz) – Von Menschenrechten für nichtdeutsche Kinder hält Berlins Innensenator Jörg Schönbohm (CDU) nicht viel. Im Januar ließ der Ex-Bundeswehrgeneral ein 12jähriges Mädchen nach Vietnam abschieben, ein krasser Verstoß gegen die von der Bundesrepublik unterschriebene Konvention zum Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen. Ein Fall, mit dem sich jetzt der Kinderausschuß der UN beschäftigen wird.

In einem Überraschungscoup wurde das Waisenkind Ha Phuong Nguyen am 13. Januar morgens um 6.30 Uhr von Polizisten aus einem Kinderheim abgeholt. Stunden später saß das Mädchen im Flugzeug nach Vietnam. Kindgerecht begleitet wurde sie nur bis Frankfurt am Main und nicht, wie es das Recht vorschreibt, bis zum Ankunftsort. Auf dem ehemaligen Militärflughafen in Hanoi stand die Kleine dann ohne einen Pfennig Geld, niemand war da, der sich um sie kümmerte. Passagiere nahmen sie schließlich in die 100 Kilometer entfernte Stadt Hai Phong mit. Dort wohnen die Großeltern. Beide sind krank, die völlig überraschende Ankunft ihrer Enkeltochter, deren Zukunft sie in Deutschland gesichert glaubten, überfordert sie.

Für Heiko Kauffmann von Pro Asyl ist diese Abschiebung „eine fahrlässige Gefährdung und Aussetzung eines Kindes durch den Staat“. Dies sei mit der UN-Kinderrechtskonvention nicht vereinbar, die Deutschland vor fünf Jahren unterzeichnet hat. Danach muß ein Staat Flüchtlingskinder aufnehmen und für sie sorgen. Rückführungen sind nur möglich, wenn im Herkunftsland eine kindgerechte Umgebung sichergestellt ist. Pro Asyl hat den schwedischen Vertreter im zuständigen UN- Ausschuß, Thomas Hammarberg, anläßlich des heutigen Weltkindertages über das Schicksal von Ha Phuong Nguyen informiert und ihn um eine offizielle Intervention an die Bundesregierung wegen einer Verletzung der Kinderkonvention gebeten.

Das Problem: Bei der Unterzeichnung der Ratifizierungsurkunde hat die Bundesrepublik einen „Interpretationsvorbehalt“ geltend gemacht. Der Vertrag könne nicht dahingehend ausgelegt werden, daß die rechtswidrige Einreise eines Ausländers in ihr Hoheitsgebiet erlaubt sei, heißt es dort. In diesem – von Juristen umstrittenen – Vorbehalt sieht Kauffmann einen eindeutigen Widerspruch zur Kinderrechtskonvention selbst. „Der UN-Ausschuß für die Rechte des Kindes hat die Bundesregierung vor zwei Jahren dringend zur Rücknahme des Vorbehaltes aufgefordert.“ Sie hätte eine Prüfung zugesagt. „Aber seitdem ist sie jedem Gespräch von seiten der NGOs ausgewichen.“

Ha Phuong Nguyen hat im April die Berliner Flüchtlingspolitikerin Rita Kantemir gebeten, ihr eine Wiedereinreise nach Deutschland zu ermöglichen. Sie könne jetzt nicht mehr zur Schule gehen, weil sie ihren Lebensunterhalt nunmehr selbst verdienen muß, schrieb sie. „Aber ich träume davon, lernen zu dürfen.“ Kantemir schaltete den Petitionsausschuß des Abgeordnetenhauses ein. Der kam zum Schluß, daß dem Kind völkerrechtswidrig schwerer Schaden zugefügt wurde. Die Innensenatsverwaltung wurde aufgefordert, das Waisenkind wieder einreisen zu lassen. Ein bisher vergebliches Begehren. Denn der Innensenator ist davon überzeugt, das Völkerrecht nicht gebrochen zu haben. Er behauptet bis heute, die Großeltern über die deutsche Botschaft von der Ankunft des Kindes informiert zu haben. Dies konnte das Auswärtige Amt jedoch nicht bestätigen.

Pro Asyl befürchtet, Schönbohm stützt seine Rechtsauffassung genau auf diesen „Interpretationsvorbehalt“ der Kinderrechtskonvention. „Deshalb muß sie zurückgenommen werden“, anderenfalls sind weitere Kinderabschiebungen zu befürchten. Ihre Forderungen gehen aber weiter: Asylverfahren sollten kindgerecht, unter Teilnahme von Kinderpsychologen, durchgeführt werden. Jugendliche über 16 Jahre dürften in Asylverfahren und bei der Unterbringung nicht länger wie Erwachsene behandelt werden. Allein einreisende unbegleitete Minderjährige sollten grundsätzlich während der ersten Monate eine Aufenthaltsbefugnis erhalten. In dieser Zeit könne dann geprüft werden, ob ein Asylverfahren überhaupt sinnvoll ist oder der Aufenthalt anders legalisiert werden könnte. Denn die allermeisten Kinder könnten keine individuelle politische Verfolgung nachweisen, einziges Kriterium für ein erfolgreiches Asylverfahren. Aber Flucht vor Bürgerkriegen, Zwangsrekrutierung oder Angst vor dem Hungertod könnten andere Aufenthaltsformen rechtfertigen.

Der Berliner Umgang mit Kinderflüchtlingen ist kein deutscher Standard. Die meisten Bundesländer gewähren Kindern bis zur Volljährigkeit Schutz. Berlin hingegen beschloß letzten Dezember, Minderjährige verstärkt „zurückzuführen“. Die von den Jugendämtern bestellten Zwangsvormünde verweigern ihren „Schützlingen“ Klagen gegen negative Asylbescheide, aufenthaltsrechtliche Schritte und rechtsanwaltliche Vollmachten. Abschiebungen sind so die Folge. Pro Asyl: „Ein beschämender Mangel an Zivilcourage. Unwürdig für eine Hauptstadt.“