Erpressungsversuch mit Folgen

Hamburgs Stadtchef ist über seine „Schmerzgrenze“ gestolpert. Die SPD-Linke reagiert schadenfroh.

Weinerlich trat ein SPD-Spitzenpolitiker nach dem anderen vor die Kameras. „Schockiert“ sei man und „betroffen“, „völlig unvorbereitet“ und „traurig“: Um 20.04 Uhr hatte Hamburgs Erster Bürgermeister Henning Voscherau in der ARD-Tagesschau mit belegter Stimme die politischen Konsequenzen aus dem verheerenden SPD-Wahlergebnis von 36,2 Prozent (1993: 40,4) gezogen.

Die machtverwöhnten Sozis konnten das schlechteste Abschneiden ihrer Partei in der Nachkriegsgeschichte nicht fassen. Noch nie sind die Hamburger WählerInnen derart gemein mit den seit 40 Jahren dauerregierenden Sozialdemokraten umgegangen. So übermächtig und unerschütterlich schien der 56jährige „ungekrönte König“ (SPD-Jargon) im Wahlkampf, daß man seinen Rücktritt für völlig abwegig hielt.

Doch nun stehen die Wasserträger Voscheraus entgeistert vor den Trümmern ihrer „Weiter-so-Politik“. Denn: Wer soll bloß in seine großen Fußstapfen treten? Sogar die Grün-Alternative Liste (GAL) zeigte sich nach den ersten Freudenjuchzern über das Abtreten des erklärten Feindes einer rot-grünen Koalition verhalten. Verhandlungen mit einer Partei, „deren Selbstbewußtsein gelitten hat“, fürchtet GAL-Fraktionschef Willfried Maier, könnten sogar schwieriger werden. Ein Nachfolger würde womöglich beweisen wollen, daß er genauso entschieden die GAL unterbuttern kann wie der designierte Ex-Bürgermeister. Zumal das Ergebnis der GAL, 13,9 Prozent, zwar für eine Landtagswahl blendend und um 0,4 Prozent besser als 1993 ist, aber doch weit hinter den Erwartungen zurückblieb.

Unbehaglich ist sogar der CDU zumute. Spitzenkandidat Ole von Beust strahlte zwar in jede Linse. Doch mit Voscherau verlieren die ChristdemokratInnen einen SPDler, mit dem eine große Koalition denkbar gewesen wäre. Und nichts wünschen sich die ewigen Oppositionellen sehnlicher, als endlich einmal mitregieren zu dürfen. Angesichts des Scheiterns der bisher mitregierenden Statt Partei und der außerparlamentarischen FDP schien die Macht greifbar nahe. Allerdings ist die Partei mit 30,7 Prozent nicht wirklich zufrieden. Sie konnte damit nur die rund fünf Prozent wieder einfangen, die sie vor vier Jahren verloren hatte. Wegen undemokratischer KandidatInnenaufstellung bei der CDU mußte 1993 neu gewählt werden.

Die Gefahr einer großen Koalition ist zur Freude vieler Sozis, die mehrheitlich Rot-Grün befürworten, nun gebannt. Denn nicht alle hatten nach den Ereignissen am Sonntag abend einen Kloß im Hals. „Wer hätte gedacht, daß eine Niederlage so süß sein kann“, ließ ein linker SPDler seiner Gehässigkeit freien Lauf. Voscherau so schnell loszuwerden, hatte man gar nicht zu hoffen gewagt.

Den SPD-Rechten wird vorgehalten, daß sie Voscherau ins offene Messer laufen ließen. Denn sie hätten den Stadtchef rechtzeitig davon abhalten müssen, ausschließlich auf das Ein-Punkt- Programm Law and order zu setzen. Glaubwürdig konnte er das schon allein deshalb nicht vertreten, weil er die offene Drogenszene etwa am Hauptbahnhof zu verantworten hat. Vor allem aber hätten Voscheraus politische Freunde verhindern müssen, daß der vom Wahlkampf erschöpfte Stadtchef sich dazu hinreißen läßt, seine „Schmerzgrenze“ zu definieren. Der Erpressungsversuch war nicht nur albern und eitel, sondern setzte Voscherau auch unter Zugzwang.

Am Sonntag gab es kein Zurück mehr. Der nächste Bürgermeister, da sind sich die SPD-Linken sicher, wird einer der Ihren sein. Ernsthaft kommt sogar nur einer in Frage: Finanzsenator Ortwin Runde. Der 53jährige Ostfriese ist das hemdsärmelige Gegenstück zu dem zugeknöpften Voscherau und schon lange sein Gegenspieler im Senat. Sozialpolitik, erkannte der schlitzohrige und machterfahrene Runde schon vor vier Jahren, kann man in diesen klammen Zeiten nur über Finanzpolitik machen.

Und auch wenn er weit weniger eloquent, charismatisch und mit weltmännischem Flair ausgestattet ist als Voscherau, so hat sich Ortwin Runde doch als Hüter der Stadtkasse einen Namen gemacht. „Keinen Kommentar“ wollte er am Sonntag abend zu seiner wahrscheinlichen Kandidatur abgeben. Doch für sein frühes Verschwinden aus der SPD-Parteizentrale hatten die Genossen nur eine Erklärung: „Der führt mit Voscheraus Leuten in irgendeiner Kneipe Verhandlungen.“ Silke Mertins, Hamburg