■ Um der ärztlichen Fehlversorgung von Migranten vorzubeugen, wurde das Ethnomedizinische Zentrum (EMZ) in Hannover gegründet Von Martin Greve: „Mein Körper ist ein Wüstensturm“
Psychosomatische Beschwerden, aber auch Krankheiten werden von Menschen unterschiedlicher Kulturen auf verschiedene Weise wahrgenommen. Oft sind es auch Schamschwellen, die beim Arztbesuch überwunden werden müssen, manchmal nur Sprachschwierigkeiten. Ein Team mit interkultureller Erfahrung berät.
Das Telephon klingelt. Esra Tunakan hebt ab. „Ein Dolmetscher aus Togo? Welche Sprache?“ – „Ewe.“ – „Da muß ich nachschauen.“ Die Mitarbeiterin im Ethnomedizinischen Zentrum Hannover blättert in ihrer Kartei, dann hat sie einen medizinisch Geschulten gefunden, der diese afrikanische Sprache spricht.
Das Ethnomedizinische Zentrum (EMZ) in Hannover ist karg ausgestattet: eine Zweizimmerwohnung, Telephon, zwei Computer, ein kümmerliches Aktenregal, ein Kopierer und ein Besprechungstisch. Keine Kittel, keine Rezeptblöcke, keine Ärzte. Das eigentliche EMZ ist ohnehin unsichtbar: ein telephonisches Netzwerk und eine Fülle interkultureller Erfahrung.
Über sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. Während aber vielerorts, vor allem in Metropolen wie Berlin Sozialberatungen in den wichtigsten Migrantensprachen angeboten werden, gilt im deutschen Gesundheitswesen noch immer: Man spricht meist nur deutsch. Selbst in Großstädten – wo etwa in gynäkologischen Abteilungen der Anteil ausländischer Patientinnen bis zu 40 Prozent beträgt – sind türkisch-, arabisch- oder russischsprachige Vorsorgeangebote rar.
Fast überall, so die Erfahrung von Ramazan Salman, dem Geschäftsführer des EMZ, müßten sich ausländische Patienten ihre Übersetzer selbst mitbringen – in der Regel ihre Kinder. „Wenn aber eine Tochter für ihren Vater die Erklärung übersetzen muß, daß ihm ein Katheder in den Penis geschoben werden soll, dann ist klar, wie der sich fühlt: Wie der letzte Dreck!“
Aber auch Patienten, die selbst deutsch sprechen, haben oft Schwierigkeiten, ihre Krankheiten so zu beschreiben, daß ein deutscher Arzt sie versteht. „Mein Körper ist ein Wüstensturm“, heißt es dann, „mein Blut tut mir weh“ oder „meine Leber zerfällt“. In vielen Kulturen, erklärt Salman, werden psychische und physische Leiden nicht unterschieden und körperlich-ganzheitlich wahrgenommen.
„Ein Deutscher sagt: ,Mir tut der kleine Finger weh‘, ein Türke sagt: ,Der ganze Arm tut mir weh‘, und ein traditioneller Araber sagt: ,Alles tut weh‘.“ Dann aber herauszufinden, daß die Ursache des Schmerzes eben im Finger liegt, erfordert interkulturelle Kompetenz und lange Patientengespräche – für die überlasteten deutschen Ärzte kaum zu bewältigen.
Ende der achtziger Jahre entstand um den Medizinsoziologen Jürgen Collatz, einem der profiliertesten Forscher migrationsspezifischer Medizin, ein Interessentenkreis – später ein Verein – aus Ärzten, Psychologen, Pflegekräften und Sozialarbeitern, der das Ziel verfolgte, „die eskalierende Fehlversorgung von Migranten zu vermindern“.
1990 begann der Verein mit interkultureller Aidsaufklärung in zwölf Sprachen – von Vietnamesisch bis Russisch, in Migrantenvereinen oder auf Flughäfen vor der Abreise in die Heimatländer. Selbst in den Moscheen Hannovers hielten sie türkischsprachige Vorträge über die Immunschwächekrankheit.
Als der Verein dann anfing, ärztlich und im Patientenumgang geschulte Dolmetscher an Krankenhäuser und Arztpraxen zu vermitteln, wurde die Öffentlichkeit auf das Pionierprojekt aufmerksam.
Journalisten erfanden schließlich den Namen der Einrichtung. Seit 1993 wird das Zentrum vom Land Niedersachsen gefördert. Heute ist das Netzwerk auf 200 Dolmetscher in über 50 Sprachen angewachsen. Auch sein Aufklärungskonzept hat das EMZ auf weitere medizinische Problemfelder ausgedehnt: Drogen, Altersversorgung, Frauengesundheit, Flüchtlingskinder – bis hin zur Zahnpflege.
„Integrationsmäßig ist Deutschland ein Entwicklungsland“, meint Salman. In den Niederlanden gibt es längst Kliniken mit multikultureller Küche, zudem Gebetsräume für verschiedene Religionen.
In fast allen westlichen Ländern bestehen heute staatliche Organisationen, die Dolmetscher für soziale und medizinische Bereiche vermitteln: in den USA, Kanada, Australien sowie in fast allen EU-Ländern – außer in Luxemburg, Griechenland und der Bundesrepublik.
Wie groß jedoch der Bedarf an interkultureller medizinischer Kompetenz geworden ist, zeigt der Andrang beim kleinen EMZ in Hannover: Alleine 1995 gingen hier 3.000 ärztliche Anfragen in 56 Sprachen ein. Über 20.000 Menschen nehmen an den jährlich 200 bis 400 Fortbildungsveranstaltungen des Zentrums teil.
Mittlerweile wird in Berlin – einer Stadt mit einer halben Million Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft – die Einrichtung eines zweiten Ethnomedizinischen Zentrums diskutiert, nicht zuletzt aus Spargründen. „Jedes Jahr“, erzählt der Gründer des EMZ, Jürgen Collatz, „haben wir etwa zwanzig, dreißig dramatische Fälle, in denen der Dolmetscherdienst eine Operation unnötig macht. Allein damit sind unsere Kosten gespart. Vom Menschlichen ganz abgesehen.“
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