: SPD-Chef fordert höhere Löhne
■ Lafontaine empfiehlt indirekt Lohnforderungen um fünf Prozent. Gewerkschafter hören seiner Rede höflich zu, lehnen es aber ab, sich von Lafontaine in Verhandlungen beraten zu lassen
Hannover (taz) – Vor dem ersten Kongreß der neuen Gewerkschaft IG Bergbau, Chemie, Energie hat der SPD-Vorsitzende Oskar Lafontaine gestern abermals eine Wende in der Lohnpolitik verlangt. „Lohnzurückhaltung kann kein Dauerzustand sein“, sagte der SPD-Politiker, ein Verzicht von Lohnzuwächsen sei allenfalls für einen begrenzten Zeitraum sinnvoll. In den westlichen Bundesländern habe es jedoch seit 1989 real keine Lohnzuwächse der Arbeitnehmer mehr gegeben. Für die kommenden Tarifrunden wollte Lafontaine zwar „keine konkrete Empfehlung, etwa von fünf oder sechs Prozent, aussprechen“. Die Forderung, daß die Arbeitnehmer an den Produktivitätszuwächsen zu beteiligen seien, daß ihnen ein gerechter Anteil am gemeinsam Erarbeiteten zustehe, bleibe jedoch Programmpunkt der SPD.
Den Vorwurf, er mische sich unzulässig in die Tarifverhandlungen ein, wies Lafontaine mit dem Hinweis zurück, Zurückhaltung bei den Löhnen werde in Kommentaren der konservativen Presse immer wieder verlangt. Hier müsse man auch öffentlich eine Gegenposition vertreten können. Einer veränderten Tarifpolitik sprach Lafontaine auch eine wichtige Rolle bei der Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit zu. Das Beispiel der Vereinigten Staaten zeige, daß die Arbeitslosigkeit mit dem richtigen Mix aus Haushalts-, Steuer- und Tarifpolitik und einer entsprechenden Geldpolitik der Zentralbank erfolgreich bekämpft werden könne.
Der IG-Chemie-Vorsitzende Hubertus Schmoldt, der nach dem Gewerkschaftstag auch der Vorsitzende des neuen Zusammenschlusses der Chemie-, Leder- und Bergbaugewerkschaft sein wird, verwahrte sich gestern in seiner Eröffnungsrede gegen jede Einmischung in die Tarifpolitik. Schmoldt sprach sich für „eine Allianz der Vernunft aller in der Bundesrepublik Verantwortlichen“ aus. Auch die neue IG BCE werde den Weg der Sozialpartnerschaft und der verantwortungsbewußten tarifpolitischen Gestaltung weitergehen. „Tarifpolitische Ratschläge – von wem auch immer – brauchen wir nicht“, beendete Schmoldt gestern seine Begrüßungsrede. Auch der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte verteidigte die jahrelange Lohnzurückhaltung der Gewerkschaften.
Der tarifpolitische Kurs, mit dem die Beschäftigten auf die Steigerung ihrer Nettoeinkommen verzichtet hätten, „war beschäftigungspolitisch richtig und bleibt notwendig“, sagte Schulte. Er fügte hinzu, daß für viele Beschäftigte die Schmerzgrenze erreicht sei. Wenn diese keine Gegenleistung für ihre Lohnzurückhaltung sähen, sei „das Ende der Bescheidenheit angesagt“. ü.o
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