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Widersprüchliche Nachbarschaft

Serie „Stets zu Diensten“ (Teil 8): Wie die Dienstleistungsgesellschaft den Stadtraum verändert – in der Nachbarschaft neuer Glaspaläste sacken ganze Stadtviertel ab  ■ Von Uwe Rada

Mit Mietskasernen auf der einen und der Areal der traditionellen Knorr- Bremse auf der anderen Seite war die Gegend nordöstlich des S-Bahnhofs Ostkreuz bis zum Fall der Mauer ein räumliches Sinnbild für die Industriestadt Berlin. Lenin höchstpersönlich soll dort 1918 der Bildung eines Arbeiter- und Soldatenrates beigewohnt haben. Nach der Wende stand dort ebenso Revolutionäres auf dem Plan: der Umbau Berlins zur Dienstleistungsstadt. Statt dem Genossen Wladimir Iljitsch agierte allerdings eine Frankfurter Projektentwicklungsfirma namens JSK. Ihr Ziel: Der Bau eines gigantischen „Dienstleistungszentrums Ostkreuz“. Nicht nur die Gebäude der inzwischen top-modernisierten Knorr-Bremse in der Hirschberger Straße gehören dazu, sondern auch zahlreiche gläserne Neubauten entlang der Neuen Bahnhofstraße.

Zumindest am Ostkreuz ist der Umbau mißglückt, die Revolution steckengeblieben. Außer der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA), die am Ostkreuz eine Zweigniederlassung bezog, ist von Dienstleistungen wenig, von Leerstand umso mehr zu sehen.

Das Verhältnis von Ökonomie und Raum ist — was die industrielle Produktion betrifft — hinreichend erforscht. Die „industrielle Raumstruktur“ konnte mit den klassischen Standorttheorien der Betriebe erklärt werden. Entscheidend für deren Ansiedlung war die Nähe zu Arbeitskräften, Transportverbindungen und Absatzmärkten. Für den Industriebetrieb Knorrbremse war der Standort zwischen Mietskasernen und dem Bahnhof Ostkreuz ideal.

Für ein Dienstleistungszentrum gelten dagegen andere Kriterien. Durch die Existenz moderner Telekommunikationsmittel haben die alten Standortfaktoren vor allem für den expandierenden Sektor der unternehmensorientierten Dienstleistungen ihre Funktion verloren. Finanzdienste, Werbung, Rechtsberatung lassen sich von jedem Ort der Stadt aus erbringen.

In ihrem Buch „Dienstleistungsgesellschaften“ formulieren die Stadtsoziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel vier räumliche Tendenzen der Tertiarisierung, die das Gesicht der Städte im postfordistischen Zeitalter nachhaltig veränderten. Dazu gehörten unter anderem die „Disurbanisierung“, das heißt die Aufhebung des Stadt-Land-Gefälles, die Hierarchisierung des Stadtsystems (siehe unteren Text), die Suburbanisierung, also die Randwanderung der Stadt in die Agglomeration sowie eine Polarisierung im sozialen und räumlichen Gefüge innerhalb der Stadt.

Thema Nummer eins in Berlin ist derzeit die Suburbanisierung. Weitgehend unbemerkt von der Umlandwanderung der Stadtbewohner — allein 1996 verlor Berlin 22.000 Einwohner an den Speckgürtel — ziehen auch zahlreiche Betriebe nach Brandenburg. Die wachsende Bedeutung, die dem Speckgürtel zukommt, ergibt sich dabei nicht nur aus der Randwanderung des produzierenden Gewerbes oder dem Bau zahlreicher Einkaufszentren. Auch die unternehmensorientierten Dienstleister siedeln sich draußen an, wo Bodenpreise niedrig sind.

Zwar hat die New Yorker Stadtforscherin Saskia Sassen die lange Zeit angenommene These des „global village“, der Auflösung der Stadt in der Agglomeration, widerlegt. Doch von einem raumprägenden Drängen hochqualifizierter Dienstleister in die Zentren der Städte, wie er für „global cities“ wie London, New York oder Tokio charakteristisch ist, kann in Berlin keine Rede sein. Anders als die Zentren der „global cities“, in denen einige wenige transnationale Konzerne wesentliche Bereiche der Weltwirtschaft kontrollieren und zahlreiche strategische Dienstleistungen wie Finanzleistungen und Unternehmensberatung nachfragen, ist die Berliner Wirtschaft im wesentlichen von regionaler Bedeutung.

Umso folgenreicher ist freilich die vorrangig auf Investitionen von außen ausgerichtete Standortpolitik des Senats. Als hätte Berlin tatsächlich eine Stimme im Konzert der Weltstädte, wurden und werden mit der Friedrichsstraße und dem Potsdamer Platz klassische Quartiere eines „Central Business Districts“ im Sinne der „global cities“ geplant. Ein einziges transnationales Dienstleistungsunternehmen wie debis macht freilich noch keinen Potsdamer Platz. Die zunehmende Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Bedeutung und städtebaulicher Megalomanie wird sich in Berlin deshalb vor allem in der von Häußermann und Siebel prognostizierten Polarisierung des städtischen Raums ausdrücken. Schon heute könnten der sterile Glanz der debis-Bauten am Potsdamer Platz und die Armuts- und Drogenrealität auf der benachbarten Potsdamer Straße nicht unterschiedlicher sein.

Wie sehr das Bild der Dienstleistungsmetropole bereits eine Chimäre ist, zeigt nicht nur der Leerstand in den Bürokomplexen. Auch der „neue Stadtbürger“, der potentielle soziale Träger der Dienstleistungsmetropole, macht um Berlin mittlerweile einen großen Bogen. So sehr sich rund um die Friedrichstraße auch eine kleine „white collar“-Kultur etabliert haben mag, so wenig sind es die tertiären Entscheider, sondern arbeitslose Industriearbeiter und Armutsflüchtlinge, die das Stadtbild Berlins prägen werden.

Durch die spekulative Orientierung auf eine Dienstleistungsmetropole und der damit verbundenen sozialen und räumlichen Polarisierung, ist Berlin auf dem besten Wege, den einzig tatsächlich entscheidenden Standortfaktor im Ringen um die Ansiedlung von hochspezialisierten Dienstleistern, sein Image, zu verspielen. Im Rahmen einer vergleichenden Studie hat das Deutsche Institut für Urbanistik (DIfU) 1995 festgestellt, daß es um den Berliner Ruf nicht zum besten bestellt ist. Nicht zuletzt der Umstand, daß „vor allem Ehefrauen von Führungskräften, die nach Berlin geworben werden sollen, erhebliche Vorbehalte gegenüber der Stadt haben“, veranlaßte das DIfU schließlich zur Aufforderung an den Senat, sich um ein neues Leitbild zu bemühen. „Für eine emotionale Konsolidierung“, so das Institut, sei allerdings eine „Rückbesinnung auf die eigenen Kräfte und Stärken erforderlich“.

Davon ist freilich wenig zu sehen im politischen Standortgeschäft des Senats. Das Mißverhältnis zwischen städtebaulichem So- tun-als-ob und tatsächlichem Sein wird deshalb die Polarisierung der Stadt weiter verschärfen — sozial wie stadträumlich. Am Ende könnten dann tatsächlich die amerikanischen Bilder einer gespaltenen Stadt stehen: mit wenigen „Zitadellen“ für die tertiären Entscheider und ausgedehnten „Ghettos“ für die Bewohner einer Dienstbotenstadt.

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