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Schleierfahndung auf dem Vormarsch

Europa wird offener, Grenzkontrollen fallen weg – diese Woche zwischen Deutschland und Österreich. Immer mehr Bundesländer reagieren darauf mit der Ausweitung verdachtsunabhängiger Personenkontrollen  ■ Von Otto Diederichs

Berlin (taz) – Als die Republik Österreich erklärte, zum 1. Januar 1995 der Europäischen Union beitreten zu wollen, war klar, daß es bis zum Abbau der Grenzkontrollen zu Bayern nur noch eine Frage der Zeit sein würde. Am Montag war es soweit: Das Schengener Abkommen trat in der Alpenrepublik in Kraft; als erstes fielen die Paßkontrollen auf den internationalen Flughäfen Österreichs sowie an 34 kleineren Grenzstationen zu Deutschland.

Seit in Kerneuropa die Schlagbäume zunehmend hochgezogen bleiben, plagt die Polizei in allen Schengen-Staaten die gleiche Sorge um die angeblich entstehenden Sicherheitsdefizite. Soweit wollte man es in Bayern nicht kommen lassen und schuf sich mit einer Änderung des Polizeigesetzes die Möglichkeit von „Ausgleichsmaßnahmen“ bereits zum Jahresbeginn 1995. Bis zu einer Tiefe von 30 Kilometern durften nun im Grenzgebiet auf Durchgangsstraßen mit Bedeutung für den grenzüberschreitenden Verkehr sowie in öffentlichen Verkehrseinrichtungen „verdachts- und ereignisunabhängige Personenkontrollen“ durchgeführt werden – die sogenannte Schleierfahndung.

„Rechtsbrecher jeglicher Couleur nutzen unsere Verkehrsinfrastruktur für ihre kriminellen Machenschaften. Wir lassen sie jetzt aber nicht mehr unerkannt und unbehelligt im Verkehr mitschwimmen“, begründete seinerzeit Staatssekretär Hermann Regensburger die neue Regelung, die die 30-km-Zone unterdessen längst verlassen hat und heute in Bayern landesweit gilt. Welche Straßen zu welchem Zeitpunkt zu Kontrollgebieten werden, entscheidet die zuständige Polizeidienststelle.

Damit erfüllten die bayerischen Sicherheitspolitiker ihrer Polizei einen alten Traum. Bis zu diesem Zeitpunkt waren Pkw-Kontrollen – außer bei einem konkreten Verdacht – lediglich im engen Rahmen der Straßenverkehrsordnung gestattet. Um dennoch den begehrten Blick in den Kofferraum werfen zu können, mußte der Umweg über die Kontrolle des Warndreiecks oder des Verbandskastens gewählt werden. Damit ist es nun vorbei.

Mit dem Fall der Grenze zu Österreich in dieser Woche sollen in den hiervon hauptsächlich betroffenen Bereichen zusätzliche „Fahndungskommandos“ von etwa 50 bis 100 Beamten aufgestellt werden. Sie sollen nach einem flexiblen Dienstplan auf den Straßen im Grenzgebiet und (in Absprache mit dem Bundesgrenzschutz) auch in Zügen Fahndungen und Kontrollen durchführen. In Unterfranken wurde sogar eine gesamte Station der Autobahnpolizei umgerüstet. Galt der Einsatz der Beamten bislang der Verkehrssicherheit, werden sie jetzt auch nach Rauschgift, Waffen oder ähnlichem fahnden. Hierzu fahren sie in Zivil im Verkehrsstrom mit, bis ihnen irgendwann ein Fahrzeug verdächtig vorkommt. „Mitschwimmen“ heißt dies im Polizeijargon. Wer aus irgendeinem Grunde auffällt, wird auf den nächsten Parkplatz gewunken und kontrolliert. Das Ziel ist dabei primär das Auto, für die Insassen interessieren sich die Beamten erst bei einem konkreten Verdacht.

Daß solch ein flächendeckender Fahndungsschleier (daher Schleierfahndung) auch außerhalb des Freistaates auf Interesse stoßen würde, erstaunt kaum. Als erstes übernahm Baden-Württemberg das Modell. Mitte Juli dieses Jahres unterzeichneten Bundesinnenminister Manfred Kanther und sein baden-württembergischer Kollege Thomas Schäuble eine entsprechende „Sicherheitspartnerschaft“. Danach soll die Landespolizei in Kooperation mit dem Bundesgrenzschutz die Grenze zur Schweiz und zum Elsaß mit einem Sicherheitsschleier belegen.

Während die rot-grün regierten Bundesländer Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein die Einführung der Schleierfahndung (derzeit noch) ablehnen, hat Niedersachsen den Schwenk bereits mitgemacht. Das aus rot-grüner Zeit stammende Polizeigesetz – seinerzeit das liberalste in der Bundesrepublik – sieht nun ebenfalls die Möglichkeit einer landesweiten Schleierfahndung vor. In Mecklenburg-Vorpommern ist eine solche Befugnis bei der Novellierung des dortigen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes ebenfalls vorgesehen; in Schwerin hofft man, es noch in diesem Jahr verabschieden zu können. Im Berlin haben sich CDU und SPD in der Großen Koalition ebenfalls auf einen entsprechenden Änderungsantrag geeinigt. Thüringen ist da bereits ein Stück weiter. Dort tritt das neue Polizeigesetz, das die Schleierfahndung vorsieht, zum 1. Januar 1998 in Kraft. Daß es dabei in Wirklichkeit um mehr geht als nur um „Ausgleichsmaßnahmen“ im Grenzbereich, zeigt sich in Berlin in schöner Absurdität. In der Hauptstadt geht es vor allem, so der SPD-Sicherheitsexperte Hans- Georg Lorenz, „um die Ausfallstraßen nach Brandenburg“.

Eindeutig handelt es sich bei der Schleierfahndung denn auch um eine zusätzliche, nach innen gerichtete Maßnahme. Daß eine auf dem Zufallsprinzip beruhende Fahndungsmethode tatsächlich geeignet ist, Sicherheit zu produzieren, können nur Anhänger der Chaostheorie wirklich glauben. Geeignet ist sie hingegen, den Druck auf die in Deutschland lebenden Migranten zu erhöhen und das Polizeirecht zu Lasten der Bürgerrechte weiter auszuhöhlen.

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