piwik no script img

Phantasie und Realität unterscheiden

■ Prozeß wegen Kindesmißbrauch: Mädchen nahm Aussage teilweise zurück /Gutachten belastete Angeklagten schwer

Wahrheitsfindung ist mitunter ein schwieriges Geschäft. Zu Beginn des Prozesses gegen einen 41jährigen Bremer scheint die Sachlage klar zu sein. Der Angeklagte soll seine Stieftochter im Alter von elf und 13 Jahren vergewaltigt haben. Außerdem wirft der Staatsanwalt ihm den Mißbrauch der dreijährigen Nichte seiner Frau vor (taz 14./15.2). Der Mann, der die Taten vehement bestreitet, wird durch die Gutachterin schwer belastet. Sie hält die Erzählungen der Mädchen für glaubhaft. Doch die 16jährige, die mittlerweile in einem Heim in Süddeutschland lebt, nimmt ihre Aussage vor Gericht teilweise zurück. Ihr Stiefvater habe sie einmal mißbraucht. Den Rest habe sie sich ausgedacht, damit ihr Vater zu einer höheren Gefängnisstrafe verurteilt werde.

Konnte die Gutachterin Realität und Phantasie des Mädchens nicht auseinanderhalten? Auf die Frage des Staatsanwalts, wie man solche Irrtümer vermeiden könne, weiß sie keine rechte Antwort. Das Mädchen habe unter einer Art Wiederholungszwang gelitten, erläutert die Psychologin ihr Gutachten vor Gericht. Sie habe das traumatische Erlebnis der Vergewaltigung immer wieder „reinszeniert“. Das Mädchen habe nicht gelogen, sagt die Gutachterin. Die Vergewaltigungen seien für sie „psychische Wirklichkeit“gewesen. „In der Quantität muß eine Reduktion vorgenommen werden, nicht aber in der Qualität“, erklärt die Psychologin. Eine einleuchtende Erklärung, die dem Angeklagten allerdings unter Umständen ein paar Jahre mehr Gefängnis eingebrockt hätte. Der Bundesgerichtshof hat im Mai 1994 entschieden, bei sexuellem Mißbrauch nicht mehr den sogenannten Fortsetzungszusammenhang anzunehmen, sondern die einzelnen Straftaten zu bewerten.

„Es gibt nur eine Handvoll Gutachter, auf die wir zurückgreifen können“, bringt ein Staatsanwalt, der namentlich nicht genannt werden will, die Problematik auf den Punkt. Die Psychologen, die mit ihrem Gutachten das Urteil unter Umständen stark beeinflussen, müßten lediglich Kinderpsychologen sein. Ansonsten verlasse man sich auf Erfahrungswerte. Da die bekannten Gutachter allesamt überlastet wären, hätten auch unbekannte Kinderpsychologen, die sich bei der Staatsanwaltschaft als neue Gutachter andienten, durchaus Chancen, Aufträge zu bekommen – und zwar ohne vorherige Prüfung der weiteren Qualifikation.

„Man kommt schon manchmal ins Grübeln, wenn man sieht, wer da als Gutachter auftritt“, sagt ein Strafverteidiger, der „wegen der zu erwartenden Anfeindungen“ebenfalls anonym bleiben will. „Wenn man bedenkt, daß die über das Wohl und Wehe eines Menschen entscheiden, kann einem richtig schlecht werden.“

Daß den Gutachtern unter Umständen „ein erhebliches Gewicht“zukommt, räumt auch ein Sprecher des Landgerichts ein. Die Jugendkammern hätten sich allerdings inzwischen „eigene Kenntnisse“angeeignet, so daß der Gutachter „als Hilfsmittel“gesehen würde, „um die Entscheidung vorzubereiten“. Von einer Gutachtergläubigkeit könne keine Rede sein, versichert der Strafrichter. Spätestens seit dem Montessori-Prozeß, in dem ein Kindergärtner von Gutachtern schwer belastet und anschließend von den Richtern freigesprochen wurde, sei die „Sensibilität gegenüber den Aussagen von Gutachtern gestiegen“. Der Prozeß wird fortgesetzt. kes

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen