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Gedenken an den Todesschuß

Vor 30 Jahren wurde Martin Luther King ermordet. Neue Spekulationen über seinen Tod sehen ihn als Opfer einer Verschwörung, nicht eines Einzeltäters  ■ Aus Washington Peter Tautfest

Vor genau 30 Jahren starb hier Martin Luther King. Am Samstag brachte die „Pilgerfahrt nach Memphis“ Tausende in die Stadt am Mississippi im Bundesstaat Tennessee. Sie gedachten des Mordes an einem Mann, der Organisator, Leitfigur und geistiger Führer einer Bewegung war, die das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß in den USA grundlegend ändern sollte. Sie versammelten sich zu einer Mahnwache vor dem Lorreine Motel, auf dessen Balkon King am Abend des 4. April 1968 von einer Kugel getroffen zusammenbrach und starb.

In einer Radioansprache würdigte Präsident Bill Clinton King als „einen der größten Helden Amerikas“ und rief dazu auf, sein Eintreten für die Toleranz unter den Rassen nachzueifern. Vizepräsident Al Gore erklärte, der Schwarzenführer habe nicht nur für Gerechtigkeit gekämpft, sondern auch dafür, „die Herzen der Menschen zu öffnen“.

An die 2.000 Menschen kamen in und vor die Kirche, in der damals Kings Trauergottesdienst stattfand, um Reden seiner Mitstreiter zu hören. In einer Aufzeichnung war noch einmal Kings Vorahnung zu hören: „Ich bin auf dem Gipfel des Berges angelangt. Wie alle würde ich gerne lange leben, aber das alles betrifft mich nun nicht mehr. Ich will nur den Willen Gottes erfüllen.“ 1.000 Stadtwerker beteiligten sich derweil an einer Demonstration, die symbolisch jenen Marsch vollenden sollte, dessen Unterstützung King überhaupt nach Memphis gebracht hatte: Er war gekommen, um bei der Organisation ihres Streiks zu helfen.

Die Nachricht vom Tod Martin Luther Kings hatte im April 1968 landesweit Demonstrationen und Unruhen ausgelöst. Das Zentrum Washingtons brannte. Die Spuren davon sind noch heute zu sehen – genau wie in Memphis die Armut und soziale Ungleichheit, auf deren Bekämpfung sich King in seinen letzten Lebensjahren konzentrierte. Verläßt man die historische Down Town von Memphis, die Beal Street mit ihren legendären Jazzlokalen, fährt man durch urbane Wüste, die vom Wirtschaftsboom der letzten Jahre nichts abbekommen zu haben scheint.

Zwar hat sich die schwarze Mittelklasse der USA verdreifacht, und deren Vertreter leben heute in Stadtteilen, die ihnen zu Zeiten Martin Luther Kings noch versperrt waren. Doch in den Zentren der Städte scheinen sich Armut und Verwahrlosung auf Dauer eingenistet zu haben. Schwarze besitzen im Landesdurchschnitt ein Zehntel der Reichtümer, derer sich Weiße erfreuen, und jeder dritte schwarze Mann im Alter zwischen 18 und 25 Jahren sitzt im Gefängnis oder ist auf Bewährung frei. Schwarze Kinder besuchen mehrheitlich die schlecht ausgestatteten öffentlichen Schulen während Kinder der weißen Mittelschicht in Privatschulen oder besser ausgestattete suburbane Schulen gehen.

Martin Luther King starb zu einem Zeitpunkt, da die Bürgerrechtsbewegung ihren Zenit bereits überschritten hatte. Die Märsche von Birmingham und Selma, bei denen die Polizei Hunde auf die Demonstranten gehetzt hatten, waren vorbei. Die Bilder waren um die Welt gegangen und hatten zu einem Stimmungsumschwung im Lande geführt, in deren Gefolge die Bürgerrechtsgesetze von 1964 und 1965 verabschiedet wurden. King kam zu der Erkenntnis, daß Bürgerrechte zugleich ökonomische Rechte waren und begann die soziale Kluft zu attackieren. Nach jenem Marsch auf Washington, bei dem er seine große „Ich habe einen Traum“-Rede gehalten hatte, die heute in jeder Schule gelesen wird, arbeitete er an der Organisation eines Marsches der Armen.

Vor den Teilnehmern der Kundgebung in Memphis erinnerte am Samstag der schwarze Pfarrer und Bürgerrechtler Jesse Jackson daran, daß noch immer jedes fünfte Kind in den USA in Armut geboren werde und in Armut aufwachse. „Aber wir marschieren wieder“, setzte Jackson hinzu, „die Kugel konnte den Traum nicht beenden.“ Jackson hatte an jenem 4. April 1968 unter dem Balkon gestanden, auf dem King getötet wurde.

Außerdem begriff er, daß der Krieg in Vietnam und die soziale Lage in den Vereinigten Staaten in einem Zusammenhang standen, und daß der von Präsident Johnson erklärte „Krieg gegen die Armut“ am Krieg in Vietnam scheitern würde. Für beides hatten die USA nicht genug Geld.

Daß King just zu dieser Zeit erschossen wurde, da er sich der sozialen Frage zuwandte und gegen den Vietnamkrieg Stellung nahm, hat Spekulationen darüber entstehen lassen, daß sein Mörder kein Einzelgänger gewesen und seine Tat nicht nur von dumpfem Rassenhaß motiviert gewesen sein kann. War nicht doch das FBI oder gar das Weiße Haus selbst an einer Verschwörung zur Ermordung Martin Luther Kings beteiligt?

Dexter King, der jüngere der beiden Söhne Martin Luther Kings, erregte letztes Jahr einiges Aufsehen, als er nach einem Gefängnisbesuch beim Mörders seines Vaters erklärte, daß er von dessen Unschuld überzeugt sei und die Wiederaufnahme seines Verfahrens forderte.

Tatsächlich wurde dem heute 70jährigen und unheilbar an Leberkrebs erkrankten James Earl Ray nie der Prozeß gemacht. Bei seiner Festnahme legte er ein Geständnis ab, daß er Tage später widerrief. Nach dem in den USA üblichen Verfahren, eine Strafe ohne Verfahren auszuhandeln, verzichtete er auf seinen Prozeß, bei dem er die Todesstrafe zu erwarten hatte, und erhielt im Gegenzug eine 99jährige Haftstrafe.

Mehrere Untersuchungen, eine davon von einer Senatskommission, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß James Earl Ray der alleinige Täter ist. In diesem Monat legt der amerikanische Journalist Gerald Posner ein Buch vor, dem die abermalige Untersuchung aller erreichbaren Dokumente zugrunde liegt. Auch er kommt zu dem Ergebnis, daß der arbeitslose, vorbestrafte und im rassistischen Milieu aufgewachsene James Earl Ray der alleinige Täter war. Auch Posner kritisiert allerdings, daß es nie zu einem Prozeß gekommen ist, dessen Akten ein zentrales Archiv für Nachforschungen hätten sein können.

Die Witwe Kings, Coretta Scott King, hat Präsident Clinton aufgefordert, eine Untersuchungskommission einzuberufen und den Mord an ihrem Mann erneut untersuchen zu lassen. Auch Jesse Jackson hat sich dieser Forderung angeschlossen. „Es gibt eine Menge Fragen über die Rolle unserer Regierung“, sagte er am Samstag in Memphis.

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