Elchtest in München

■ Das Urteil über den ehemaligen Geschäftsführer der deutschen CompuServe-Tochter stellt das neue Multimediagesetz in Frage

Bayern granteln gern. Wilhelm Hubbert, Richter am Münchener Amtsgericht, brauchte nach dem Plädoyer der Verteidigung nur zehn Minuten Bedenkzeit, um dann der ganzen Bagage in Bonn, Frankfurt, Hamburg oder auch in Unterschleißheim und Großhaching Bescheid zu sagen. Es will ihm einfach nicht in den Kopf, daß so ein gescheiter Mann wie der Felix Somm nicht gewußt haben soll, was für einen Schweinkram man bei ihm hat haben können. „Bis ins letzte Kinderzimmer“ habe Somm die Pornos mit Kindern und Tieren geliefert. Und wenn er das gewußt hat, dann hat er das auch verhindern können, meint der Amtsrichter: Bewährung für den ehemaligen Geschäftsführer der deutschen Tochter des Onlinedienstes CompuServe, 100.000 Mark Geldstrafe.

Hubbert sitzt noch an der schriftlichen Begründung seines Urteils, das Somms Verteidiger, der Juraprofessor Ulrich Sieber, schlicht als „Skandal“ empfand. Immerhin hatte er sogar den Staatsanwaltschaft überzeugt, der am Ende des Verfahrens ebenfalls für einen Freispruch plädierte. Sieber wird denn Fall vor die nächste Instanz tragen, sobald Hubbert seinen Text fertig hat. Das kann noch gut zwei Wochen dauern, und schon jetzt steht fest, daß der Donnerschlag von München den Frieden des Internetgewerbes nachhaltig gestört hat. Die vier größten Anbieter von Internetzugängen in Deutschland veröffentlichten am Freitag eine gemeinsame Erklärung. T-Online, germany.net, AOL und CompuServe befürchten, heißt es in dem Papier, „eine Situation der Rechtsunsicherheit“. Das Urteil stelle „grundsätzlich die Entscheidung in Frage, in Deutschland einen Onlinedienst zu betreiben oder einen Zugang zum Internet zu vermitteln“.

Der bayerische Wirtschaftsminister war nicht weniger entsetzt, die Junge Union entdeckte ihre Liebe zu den Bürgerrechten im Internet, und ausgerechnet ein Systemadministrator des vom Freistaat Bayern geförderten „BayernNet“ gab per E-Mail seinen Kollegen zu bedenken, ob sie nicht einen Proteststreik organisieren sollten.

Daß es dazu kommt, ist eher unwahrscheinlich. Schon zu Beginn des Prozesses hatte das bayerische Innenministerium erklärt, aus der Sicht der Landesregierung sei ein Freispruch im Fall Somm nicht akzeptabel. Wer strafbare Inhalte aus dem Internet anbiete, sei nach dem im letzten Sommer verabschiedeten „Informations- und Kommunikationsdienstegesetz“ (IuKDG) dafür haftbar.

Netzfirmen zwischen Zensur und Knast

Federführend für dieses inzwischen „Multimdiagesetz“ genannte unaussprechliche Paragraraphenwerk war das Bonner Forschungsministerium. Nach dem Richterspruch vom letzten Donnerstag gab Forschungsminister Jürgen Rüttgers denn auch reichlich nervös zu Protokoll, sein Ministerium werde das Urteil „genau prüfen“ und in „die laufende Evaluierung des Multimediagesetzes einfließen lassen“.

Erstaunlich. Bislang hatte Rüttgers sein Werk gern als Vorbild für Europa angepriesen. Sollte es nun jedem Amtsrichter erlauben, einen jungen Unternehmer wie Felix Somm, prototypisch für das neue Internetgewerbe, in den Knast zu schicken, kann es getrost zu den Akten gelegt werden. Es wäre schon bei seiner ersten Anwendung gescheitert. Die „Entwicklung des Internets“ dürfe in „Deutschland nicht behindert werden“, sagte auch Rüttgers, nur war eher unklar, an wen sich diese Warnung richtete. Sie betrifft ihn selbst. Sein Gesetz hat den notorischen Konflikt zwischen der Forderung der Industrie nach einem möglichst unbehindertem Datenfluß und dem Anspruch des Staates auf Kontrolle und Strafverfolgung keineswegs gelöst. Es hat den Schwarzen Peter lediglich denen zugeschoben, die sich am schlechtesten dagegen wehren können: den kleinen und mittelständischen Unternehmern, die heute versuchen, sich rechtzeitig ihren kleinen Anteil an dem Riesengeschäft des nächsten Jahrzehnts zu sichern.

Mit Felix Somm, dem Pionier und Gründer der deutschen CompuServe-Tochter, standen sie vor Gericht, das ihnen gezeigt hat, daß sie schon wieder mit einem Bein im Gefängnis stehen. Die Argumente der Verteidigung könnten nur „bei jemandem auf fruchtbaren Boden fallen, der überhaupt keine Ahnung hat“, grantelte der Amstrichter, doch das erste Hohngelächter im Gerichtssaal ist inzwischen verstummt. Zu genau hatte Hubbert auf den Wortlaut des Multimediagesetzes geachtet. Der Schweinkram sei „auf amerikanischen Rechnern zwischengespeichert“, sagte er, daher dem Geschäftsführer der deutschen Tochtergesellschaft sehr wohl „zurechenbar“ gewesen.

Das Argument ist schwer zu widerlegen. Niemand weiß das besser als Ulrich Sieber. Somms Verteidiger ist seit vielen Jahren anerkannter Experte für Computerkriminalität und beriet die Bundesregierung auch bei der Formulierung des IuKDG. Paragraph 5 beschreibt, wofür Firmen im Internet haften. Für die Daten, die sie ihren Kunden auf ihren eigenen Rechnern anbieten, haften sie so verantwortlich, wie jede andere Firma für ihre Dienstleistung verantwortlich ist. Für die Sexforen aus dem Internet war bei CompuServe noch nicht einmal ein Internetzugang erforderlich, sie konnten aus dem Hausnetz geholt werden – auch für Sieber ein Fall von „Service-Providing“, wie der Slangausdruck der Branche für diese Art der Vermittlung von Netzinhalten lautet.

Im Fall der Newsgroups ist sie aus technischen Gründen unvermeidlich, der Newsserver des Provider-Dachverbandes „Electronic Commerce Forum“ (eco) wird jeden Monat mit Hunderten von Gigabyte an Daten aus dem Usenet überschwemmt. Manche möchten damit „am liebsten gar nichts zu tun haben“, sagt eco-Rechtsanwalt Schneider. Newsgroups waren schon vor dem Münchner Elchtest ein Rechtsrisiko. Wer diesen Teil des Internets zugänglich machen will, steht vor einer unlösbaren Aufgabe. Verteidiger Sieber verglich sie mit der Forderung „an eine taubstumme Telefonistin, sie möge den weltweiten Telefonverkehr in 150 verschiedenen Sprachen überwachen“.

Vermutlich glaubt auch ein Wilhelm Hubbert nicht, daß irgend jemand diese Datenflut wirksam kontrollieren könnte. Genau das aber schreibt das Multimedigesetz vor. Noch weniger hat den Grantler wohl der Ausweg überzeugt, den Sieber aus der Rechtsklemme wies. Das Multimediagesetz verlange nämlich nur, so möchte es der Rechtsprofessor auslegen, daß illegales Material entfernt werde, von dem der Provider tatsächlich Kenntnis habe und auch haben könne. „Proaktiv“, also vorbeugend, sei das im Falle der Newsgroups aber nicht möglich.

In diesem Sinne hatte Felix Somm im Januar 1996 denn auch unter weltweitem Protest über 200 Newsgroups sperren lassen. Angesichts dieser Art tätiger Reute sei Somm in jedem Fall freizusprechen, trug Sieber dem Gericht vor, jedoch nicht wegen der inzwischen geltenden Rechtsvorschriften, sondern „unabhängig“ davon.

Die Berufungsinstanz wird entscheiden müssen, ob sie diesem Argument folgen will. Es wäre nur ein Freispruch zweiter Klasse, und die hektische Netzbranche mag bei aller Solidarität mit dem wahrlich ehrbaren Felix Somm so lange gar nicht mehr warten. Das Multimediagesetz zwingt sie schon jetzt zur Zensur ganzer Teile des Internets. Harald Summa, Vorstand des Provider-Dachverbandes eco, hat am Dienstag angekündigt, daß nun das „Projekt News Watch“ mit „verstärkten Kräften angegangen“ werde. Vor wenigen Monaten hatten Gutachter im Auftrag des Verbandes noch dringend davon abgeraten, die Newsgroups systematisch filtern zu wollen. Das sei zwar technisch möglich, jedoch sei der Aufwand unzumutbar groß und der Nutzen überaus fragwürdig. Nun soll die kritisierte Software dennoch eingesetzt werden, allerdings nur in einer „abgespeckten Version“, wie Harald Summa versichert. Niklaus Hablützel

niklaus@taz.de