: Der Baumeister geht planmäßig
Leipzigs Oberbürgermeister Hinrich Lehmann-Grube scheidet aus dem Amt. Der Sozialdemokrat machte Politik, wie andere Menschen Häuser bauen ■ Von Robin Alexander
Werden in Leipzig alte Bürgerhäuser saniert, bleibt oft nur die Fassade stehen. Eine trostlose, dünne Außenhaut, die ihren Bestand dem Denkmalschutz und schweren Eisenträgern verdankt, die sie stützen. Dann entsteht ein neues Gebäude auf dem alten Grundstück. Schließlich wird die stehengelassene Fassade einfach den neuen Mauern angeheftet. Entkernung heißt dieses schwierige Verfahren, das neben umsichtigen Handwerkern auch kluge Baumeister erfordert.
Acht Jahre lang hat Hinrich Lehmann-Grube in Leipzig saniert. Nicht ein Haus, eine ganze Großstadt hat er zur Baustelle gemacht. Und heute geht der seit 1933 erste frei gewählte Leipziger Oberbürgermeister in den Ruhestand.
Die Leipziger sprechen aber nicht von „Sanierung“, wenn sie die vergangenen acht Jahre meinen. Sie sagen „Aufbau“, als hätte die Zeit der DDR und des Sozialismus ihre Stadt regelrecht in Trümmer gelegt. Seit 1990 war Hinrich Lehmann-Grube Oberbürgermeister und Leiter des Aufbaus. Daß der in Leipzig besser als anderswo vorangeht, glauben eigentlich alle Leipziger.
Man kann das Neue ja auch sehen und mit Händen greifen: ein großes neues Messegelände aus Stahl und Glas, Deutschlands modernsten Hauptbahnhof, die meisten niedergelassenen Banken nach Frankfurt am Main. All das wird Lehmann-Grube und seiner Rathaus-Crew zugeschrieben, die mit der Werbekampagne „Leipzig kommt!“ der Baustellen-Stadt sogar einen neuen Namen verpaßten: Boomtown.
Doch auf dem neuen Einkauf- Bahnhof gibt es mehr Boutiquen und Parfümerien, als Züge ankommen. Das neue Messegelände liegt im Norden, weit außerhalb des Stadtkerns, und die berühmten alten Messehallen im Herzen der Stadt stehen leer. Nirgendwo in Deutschland gibt es schönere und günstigere Altbauwohnungen als in Leipzig, doch die Besitzer kommen meist aus München oder Köln.
Fast 100.000 Leipziger und Leipzigerinnen haben ihre Heimatstadt seit der Wende verlassen. Der Vorwurf, in seiner Amtzeit sei von Leipzig nur die Fassade geblieben und die Stadt sei durch Entkernung ihren Einwohneren fremd geworden, beschäftigt Lehmann- Grube. „Da ist schon etwas dran“, gibt er zu, „aber das hat in Leipzig eine jahrhundertealte Tradition.“ Die Messestadt habe „schon immer das Auswärtige angezogen, aufgesogen und umgesetzt“.
Hinrich Lehmann-Grube tat sich selbst lange schwer damit, ein Leipziger zu werden. Geboren wurde er im ostpreußischen Königsberg, in Köln machte er als Kommunalpolitiker und beim Deutschen Städtetag Karriere. Ab 1979 arbeitete der Sozialdemokrat als Oberstadtdirektor in Hannover. Schon im März 1990 zog Lehmann-Grube nach Leipzig und wurde noch „Bürger der DDR“.
Trotz des blauen Personalausweises und eines deutlichen Wahlsiegs wurde das Stadtoberhaupt nur langsam heimisch in seiner Stadt. „Die Fremdheit zwischen Ost und West ist ja im Wiedervereinigungsgerede immer untergegangen.“ Während die Medien regelmäßig über den „Macher aus dem Westen“ berichteten, hatte der „ein dauerendes Gefühl des Ungenügens“ und lief „drei Jahre lang mit permanentem Herzdrücken“ herum.
Seine ersten Jahre im Amt faßt er martialisch zusammen.: „Es hat mich nicht umgebracht.“ Heute wähnt sich Lehmann-Grube „ossifiziert“.
Doch auch zum Ende seiner Amtszeit bringen die Bewohner der Messestadt ihrem scheidenden Oberhaupt eher Respekt als Zuneigung entgegen. Seine überkorrekte Aussprache klang unter Sachsen immer aufgesetzt. Der Nachfolger, Sozialdemokrat Wolfgang Tiefensee, hat nicht ohne Grund mit dem Slogan „Wir Leipziger schaffen das“ für seine Wahl geworben.
Lehmann-Grube freut das: „Leipzig ist die Stadt in Ostdeutschland, die am schnellsten ihre Identität wiedergefunden hat.“ In der Tat hat Lehmann- Grube ähnlich wie Kurt Biedenkopf verstanden, daß „Identität“ ein Schlüsselbegriff in den fünf neuen Ländern ist. Was die Bewohner dieser Stadt, die von „Heldenstadt“ bis „Boomtown“ viele seltsame Attribute kennt, wirklich auszeichne, sei „volles Vertrauen in die eigne Kraft“. Die Kraft sei im übrigen angelegt in Leipzig, sagt Lehmann-Grube und betont: „Ich habe das nicht geschaffen.“
Planmäßig geht Hinrich Lehmann-Grube mit 65 Jahren in den Ruhestand, „ich habe in meinem Leben genug gearbeitet“. Den schwierigen Verkauf von 40 Prozent der Stadtwerke bringt er noch persönlich über die Bühne, dann übernimmt sein im April mit großer Mehrheit gewählter Wunschnachfolger den Stab. Der will den Schwerpunkt nicht mehr beim Aufbau von Infrastruktur setzen, sondern bei der Bekämpfung der 21 Prozent hohen Arbeitslosigkeit in Leipzig.
Nun geht der Baumeister. Seinen Ausstand könnte er zum Richtfest geben.
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