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Weithin gähnendes Sommerloch

Die Un- und Minderbemittelten müssen sich mit dem urlaubsbedingten Ruhen tätiger Nächstenliebe arrangieren. Die meisten Suppenküchen, Kleiderkammern und Notübernachtungsstellen werden geschlossen  ■ Von Gabriele Goettle

Wenn für die Normal-, Gut- und Besserverdienenden dieses Landes weltweit Betten bezogen, Strände geharkt und die Vorratslager der Hotelküchen gefüllt sind, bricht für die Un- und Minderbemittelten eine Zeit an, in der ihnen die skandalös ungleiche Verteilung des Reichtums heftiger als gewöhnlich auf den Magen schlägt. Sie müssen sich nicht nur mit dem Mangel an Partizipation arrangieren, sondern auch mit dem urlaubsbedingten Ruhen der tätigen Nächstenliebe. Die meisten Suppenküchen, Bedürftigentreffpunkte, Kleiderkammern und Notübernachtungsstellen werden geschlossen. Nun heißt es, Entbehrungen auf sich zu nehmen, lange Wege, Schwarzfahrten zu riskieren oder auf den Parkbänken der öffentlichen Anlagen die Zeit totzuschlagen. Berlin ist unwirtlich für den, der nichts konsumieren kann. Bereits die Suche nach einem Schluck Wasser verläuft in der Regel ergebnislos. Öffentlich zugängliche Trinkwasserstellen, in anderen Ländern selbstverständlich im Gebrauch, wurden aus Ersparnisgründen rigoros abgeschafft, übriggeblieben sind einzig die öffentlichen Pumpen, an denen jedermann verschmutztes Wasser zapfen kann, zum Waschen des Autos. Ganz zu schweigen von öffentlichen Bedürfnisanstalten, an denen in früheren, wesentlich ärmeren Zeiten kein Mangel war, während sie heute, wenn überhaupt, als teure Dienstleistung nur dem Zahlenden zur Verfügung stehen. Zu all dem beherrschen die Stadt brütende Hitze und schlechtgelaunte Menschen. Wer jetzt noch hier ist, der wartet ungeduldig auf seinen Urlaub oder gehört zu den ausgesonderten Existenzen, ist arm, alt, krank. Grund zu Lebensfreude und Heiterkeit haben allenfalls die Touristen aus aller Herren Länder, die abends, weitab von den Zurückgebliebenen, über den Kurfürstendamm und Unter den Linden flanieren. Hier postieren sich diskret die Bettler und drogensüchtigen Prostituierten. Verkäufer der Obdachlosenzeitungen durchstreifen die U-Bahnen und Straßencafés, und in der „City-Station“ der Stadtmission überreichen die Hungrigen ihren letzten Essensgutschein, im Tausch gegen eine warme Mahlzeit mit alkoholfreiem Getränk. Währenddessen sitzen die Sozialhilfe in Anspruch nehmenden Familien zu Hause vor ihren Fernsehapparaten und empfangen Nachrichten von „Rekordexportüberschüssen“, vom „Aufschwung der Konjunktur“ und von den 65.000 Mark, die jeder Deutsche auf der hohen Kante hat – rein rechnerisch –, was den stolzen Betrag von fünfeinhalb Billionen Mark ergibt. Ach ja, von einem unveröffentlichten Jugendbericht über die soziale Lage der Kinder war die Rede, wonach jedes fünfte Kind im Osten Deutschlands und jedes zehnte im Westen arm ist.

Zur wahlkampfbedingten Aufschwungseuphorie gehören auch die Jubelmeldungen von den abnehmenden Arbeitslosenzahlen, termingerecht herbeigeführt durch kurzfristige Finanzierung umfangreicher ABM-Projekte und Pflicht zum Arbeitsdienst. Von diesen einschneidenden Fälschungen der Statistik bleiben auch die armen Suppenküchenbesucher nicht verschont:

Der „FC-Bayer“ ist ein sogenanntes Original. Jahrein, jahraus trägt er eine alte Jacke aus Jeansstoff, die über und über mit verschmutzten Vereinsemblemen des gleichnamigen Fußballclubs benäht ist, auch ein grüner hoher Filzhut und ein blauweißer Vereinsschal gehören zur Ausstattung. Der Mittvierziger spricht Sächsisch, er ist aus dem Vogtland und fiel bereits zu DDR-Zeiten unangenehm auf, auch durch seine geradezu landesverrätereische Schwärmerei für den FC-Bayern, statt, wie es der Brauch war, für den FD-Dynamo Dresden. Dieser Mann ist ein Fußballnarr, seine Narrenhaftigkeit besteht besonders darin, daß sie Lebenszweck geworden ist. Daß er sich, chaotisch inkrustiert in Vereinsemblemen, schmutzig und ohne Frontzähne, als lebendige Vereinswerbung durch die Stadt bewegt, ist eine Provokation, von der er nichts weiß. Bisher ist alles gutgegangen, kein Fußballfan hat den Schandfleck niedergeschlagen. Seit sieben Jahren ist er mit Erwin befreundet, bei dem er ab und zu einzieht, weil seine eigene Wohnung ihm zu verdreckt ist. Wenn aber die Bierbüchsen unter Erwins Sofa zunehmen, Geschirr und Schmutzwäsche sich häufen, wirft ihn der verzweifelt Ordnungsliebende wieder hinaus. Momentan herrscht Frieden zwischen den beiden ungleichen Freunden. Erwin empfindet sogar ein wenig Mitgefühl für den zum Arbeitsdienst herangezogenen. Der FC-Bayer muß jeden Morgen um sieben Uhr auf dem Luisenstädtischen Friedhof antreten. Zusammen mit zwei Frauen und fünf Männern wurde er abkommandiert zum Unkrautjäten. Um halb zehn ist Frühstückspause, heute will er Erwin und mir seine Arbeitsstätte zeigen. Er empfängt uns am Eingang mit hausherrenhafter Geschäftigkeit, zeigt auf eine Reihe von Kindergräbern und sagt: „Die sind schon fertig.“ Erwin blickt sinnend, seufzt: „Und ob!“, macht mit angelegten Armen hektische Flugbewegungen: „Oh, die armen Kleinen, sie flattern um die Erde rum. Es juckt mir immer in der Nase nachts, wenn die so funkeln, die ganzen Kinder da, was!?“ Der FC-Bayer lacht gutmütig: „Kommt, da sind noch viele andere Gräber, auch mengenweise alte Kriegsgräber, von früheren Kriegen, die sind von der Stadt, die müssen wir auch machen.“ Erwin baut sich mit Tütenlippen vor dem Freund auf und sagt streng: „Nun frag ich dich mal, wozu kriegen die ganzen kleinen Kinder überhaupt Zähne!?“ Ratlosigkeit zeigt sich beim Freund. Erwin erklärt: „Damit sie sich rausbeißen können aus ihren Särgen, später nach dem Tod, egal jetzt ob Kind, Soldat oder Greis. Alle müssen sich durchbeißen – durchs Leben und durch den Sarg, aber du, so ohne Zähne... Wie willst du da je wieder rauskommen?“ Der FC-Bayer kichert und drängt uns ein wenig den Hügel hoch zu einer ehemals gediegenen großen Familiengrabstelle aus schwarzem Mamor. Zwischen den Säulen und gesprungenen Platten strotzen kräftige Unkräuter. Der FC-Bayer deutet auf eine Schubkarre, die bis auf ein paar Zigarettenkippen leer ist, und erklärt: „Hier bin ich grade zu Gange gewesen.“ Erwin reckt den faltigen Hals, um die verblaßten, vormals vergoldeten Buchstaben zu lesen: „...erowski. Oh, alter Fischkopp, da liegst du also schon so lange, seit 1923, mit der Gemahlin. Alle weg. Alle! Ist das nicht traurig für dich?“ Der FC-Bayer zündet sich eine Zigarette an, rupft dabei eine blaue Glockenblume aus, wirft sie in den Schubkarre und antwortet endlich, mit den Schultern zuckend: „Mir doch egal, den kenn ich doch gar nicht. Ist sowieso keiner mehr da unten drin.“ Erwin legt die Stirn in Falten, senkt den Kopf und sagt: „Ruhe sanft, alter Fischkopf. Ich bin froh, daß ich Rentner bin, sonst würden sie mich auch noch hierher schicken, zum Gräberschänden, die Amtshirsche, die! Ich will nur mal wissen, für was das gut ist, verstehst du das?“ fragt er mich unvermittelt, „in der Kirche sagen sie doch immer so: Jesus starb für uns am Kreuz. Warum wir denn dann auch noch? Frag mal die Juden, ob die das glauben. Nee! Bis der Jesus eines Tages wirklich kommt und uns erklöst, so lange müssen wir noch selber sterben. Das ist die bittere Wahrheit!“ Der FC-Bayer lächelt und sagt seufzend: „Immer mit den Juden hat er's. Neulich hab ich extra mit ihm ein Judendenkmal angeschaut – mich interessiert so was überhaupt nicht –, aber ihm zuliebe bin ich mit hingefahren, zum Hackeschen Markt, wo früher das Judenviertel mal war.“ „Da steht aber nichts mehr von!“ unterbricht Erwin, „nur das Denkmal mit dem Judenstern drauf, das hab ich mir angeguckt.“ Dem FC-Bayer wird langweilig, er führt uns zu einer nahe gelegenen Urnenwand und weist auf eins der schlichten Namensschildchen: „Gucke, hier liegt Oma Diepgen.“ „Was denn“, fragt Erwin, „die Oma Diepgen, die immer die Sprüche losgelassen hat in der Heilig-Kreuz-Kirche? Die ist jetzt schon über ein Jahr tot. Oh, du Arme!“ Die Pause ist vorbei, unser Friedhofsführer muß wieder an die Arbeit. Ich gehe mit einem vor Nachdenklichkeit stummen Erwin hinüber zur Südsternkirche, wo heute das letzte Mal Armenausspeisung ist vor der Sommerpause. Der Andrang ist entsprechend groß.

Wir lehnen am Mäuerchen, Erwin starrt rauchend auf die mit schmiedeeisernen Ranken beschlagene Kirchentür und sagt: „Jetzt hält er mich fest, der Gedanke an den Tod... Ich gehe mal lieber rein in den Gottesdienst, das lenkt mich vielleicht ab.“ Er verschwindet mit einem Anflug von Panik in seinem runzeligen Gesicht. Aber schon treten die Belange des Lebens in Form eines fettglänzenden, dicken, dunklen Herrn heran, er fragt mit stark osteuropäischem Akzent: „Hat vielleicht jemand von Ihnen den Hansjürgen gesehen?“ Niemand reagiert, und da ich zu ihm hinsehe, wendet sich der Mann mit einer geschäftig wirkenden Vertraulichkeit an mich: „Wissen Sie, ich suche diesen Mann schon seit einer Woche, es ist dringend. Ich kann gar nicht verstehen, weshalb er nicht mehr zu mir kommt. Er hatte doch alles: Taschengeld, Fleisch... er braucht ja nur zu kommen und es holen, sonst nichts. Nur ein zwei mal die Woche, ist das zu viel verlangt? Na! Er ist der Mann meiner Schwester, er hat Verpflichtungen auf sich genommen, nun, wo vielleicht die Kontrolle schon morgen kommt und wir ihn brauchen, da läßt er uns im Stich. Das ist nicht schön von ihm, was hat er nicht alles bekommen, und dafür diese Undankbarkeit, nein, das ist nicht schön! Wenn Sie ihn sehen, dann sagen Sie ihm doch bitte, er soll sich dringend melden bei mir.“ Ich versichere, daß ich den Gesuchten nicht kenne, woraufhin der Mann, mich ins Auge fassend, fragt: „Gut, also wenn Sie ihn nicht kennen, dann kennen Sie vielelicht eine Person, die sich ganz leicht 5.000 Mark verdienen will? Ich suche nämlich eine Frau für meinen Schwestersohn, sonst muß er zurück. Und die ganze Kosovoscheiße, wer weiß denn, wie das ausgeht? Also 5.000 Mark für eine Scheinehe. 2.000 Mark beim Standesamt und 3.000 Mark für Visum, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis. So, dann auch noch fünf Jahre lang Essen, Trinken, Schlafen umsonst und: Jeden Tag 20 Mark Taschengeld! Das sind 560 Mark im Monat. Und, wie gesagt, das Fleisch, viel und gutes Essen. Kennen Sie jemanden, der Interesse hat?“ fragt er lauernd. Ich verneine freundlich, aber unmißverständlich. Er wirkt etwas unsicher, aber noch bevor er zu Preisverhandlungen ansetzen kann, kommt eine ausgemergelte Frau Ende Dreißig die Treppe herauf, lächelt mich matt an und sagt: „Grüß dich. Alles Scheiße, deine Emma! Sie ist wieder draußen, geht anschaffen, so wie immer. Dabei hab ich doch gedacht, daß sie's diesmal vielleicht schafft, die Kleene. Ich war richtig froh, wie die Bullen sie weggebracht hatten zur Wache. Na ja.“ Der Mann tritt vorsichtig näher und spricht sie an: „Entschuldigung Frau, ich habe mal eine Frage an Sie. Er unterbreitet ihr in gedämpftem Tonfall sein Angebot. Ihr anfangs mißtrauischer Gesichtsausdruck heitert sich zunehmend auf. Als er fertig ist, lacht sie auf und sagt: „Nee, ich werd' nicht mehr! Grade hab ich mich mit einem verlobt aus demselben Grund, mit so 'nem kleinen Indianer aus Peru“, und zur mir gewandt: „Weißte, der ist aus der Musiktruppe, die da immer spielt, in der Stadt überall. Im Oktober November, fahr ich mit denen nach Amerika, da wird geheiratet.“ Der Mann gibt nicht so schnell auf: „Aber verlobt ist nicht verheiratet! Was zahlt er ihnen denn, wenn ich mal fragen darf?“ „Gar nichts!“ sagt sie gelassen, „ich find den einfach nur niedlich, mit seinen schrägen Augen, seinen glänzenden Haaren und der braunen Haut. Für den mach' ich das gratis. Der Mann ist fassungslos und protestiert. „Aber das ist dumm, ganz dumm. Mein Schwestersohn ist auch ein schöner Mann, groß, kräftig, schöne Haare, weiße Zähne, alles. Der kann viel arbeiten, ist gut zu Frauen und Kindern, der trinkt nicht und raucht wenig. Frau, überlegen Sie, warum nehmen Sie nicht ihn? Und dazu die 5.000. Und fünf Jahre Taschengeld mit Fleisch, sind auch noch mal 40.000 Mark, das alles ohne Risiko.“ Die Umgarnte wird etwas nachdenklich: „Aber ich hab' dem ja nun schon zugesagt, und mein Visum ist auch beantragt. Außerdem, wie soll ich das meiner Tochter erklären?“ „Tochter?“ fragt der Mann flink, „ist die verheiratet?“ „Die ist 23, meine Tochter, nee, verheiratet ist sie nicht, aber sie hat einen Freund – außerdem ist die voll auf Heroin drauf. Grade gestern kam sie aus dem Krankenhaus raus, weil sie so im Arsch ist und auf Entzug war“, wehrt die Mutter ab. „Das macht ja alles nichts!“ ruft der Mann feurig aus, „es ist nur für eine Scheinheirat, egal... also Frau, überlegen Sie sich das, hier schreibe ich Ihnen meine Telefonnummer auf, rufen Sie mich an, jederzeit“, er beugt sich übers Mäuerchen und schreibt auf einen grellgelben Zettel, „so das ist zu Hause, diese Nummer ist mein Handy, da bin ich auf der Arbeitsstelle. Denken Sie nach, das ist ein guter Vorschlag, und ich seh' ja, Sie können es brauchen. Dazu ein großer, kräftiger Ehemann!“ „Ich denke, es ist nur eine Scheinheirat“, fragt die frisch verlobte Mutter mißtrauisch. Der Kuppler sagt beschwichtigend: „Wie Sie wollen, ganz wie Sie wollen, das kann auch mehr werden, jederzeit!“ Die Mutter wird nervös: „Hat er denn 'ne Wohnung? Bei mir kann er nämlich nicht einzieh'n, ich hab' in meiner kleinen Bude schon meine Tochter und ihren Freund zu sitzen.“ Der Dicke wird emphatisch: „Der bekommt Wohnung, Auto, alles, sobald er Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung hat, ich habe Geld, viel Geld. Was ich für meine Schwester gegeben habe, bekommt auch der Schwestersohn, Wohnung und Einrichtung, alles vom Besten! Und, liebe Frau, wenn Sie nicht möchten, dann vielleicht eine Freundin, die Sie kennen, auch zwei können es sein, ich bezahle Provision, 1.000 Mark für die Vermittlung einer Frau.“ „Mal sehen“, murmelt die Mutter zusehends reservierter, „ich kenne viele Frauen.“ Nach einer Pause fügt sie listig hinzu: „Eine treffe ich vielleicht heute Nachmittag, sie heißt Irene, ist naturblond, schlank, 32 und arbeitet in einem Kindergarten.“ Der Dicke ist erwartungsgemäß animiert, er versichert: „Diese Frau kriegt 6.000 Mark von mir! 6.000 für eine korrekte Frau mit Arbeit – und Vermittlung zahle ich für diese Frau 2.000.“ Die Mutter ist empört: „So was ist mir ja noch nie untergeommen, ich bin also keine korrekte Frau in deinen Augen, oder wie?!“ Schnell versucht der Dicke seinen Fehler wiedergutzumachen: „Entschuldigung, das ist ein Irrtum, natürlich, liebe Frau, Sie sind korrekt. Den Unterschied macht das Amt: Frau mit Arbeit, Frau ohne Arbeit.“ „Schon gut“, lenkt die Erboste ein, „aber mal nebenbei bemerkt, wie sieht es denn aus mit Spesen? Wenn ich heute Nachmittag die Irene fragen soll oder auch noch andere, das kostet mich ja Fahrgeld, Telefongeld, Zeit!“ „Das übernehme ich“, sagt der Mann beflissen, „alles, aber leider, heut hab ich kein Geld einstecken...“ Er wirkt routiniert und erreicht, daß sich die Frau mit einem: „Mal sehen was sich machen läßt“ in die Kirche begibt. Ich frage den Mann, woher er kommt. Er sagt erleichtert: „Fragen Sie nicht! Ich bin schon so lange hier, seit 1976. Gekommen bin ich als jugoslawischer Gastarbeiter aus Belgrad. Meine Schwester lebte bis 1995 dort, dann kam sie her, ich konnte alles für sie regeln, jetzt, wo ihr Sohn auch da ist, muß ich meine Bruderpflicht tun. Wenn er zurück muß, wird er vielleicht noch in einem Krieg erschossen. Es wird ja jetzt immer strenger in Deutschland...“ Ich frage, was er beruflich macht. „Ich? Ich arbeite bei einem Supermarkt, seit 18 Jahren, in der Fleischwarenabteilung mache ich den Grill, brate Hähnchen, Enten, Haxen. Ich bin für alles verantwortlich, muß morgens die Spieße vorbereiten, damit, wenn die Arbeiter und Angestellten kommen, alles schön knusprig ist. Da bleibt immer viel übrig. Kommen Sie doch mal vorbei.“ Er nennt mir die Adresse seines Supermarktes und verabschiedet sich.

Ein paar Tag später zeigen die geschlossenen Bedürftigenausspeisungen bereits Wirkung. Um die Gedächtniskirche herum, am oberen Kurfürstendamm, auf dem Alexanderplatz und an anderen belebten Plätzen, haben sich zu den dort verkehrenden Trinkern und Fixern auch viele der versprengten Suppenküchenbesucher gesellt. Herausgetreten aus der Schonung, müssen sie schnell lernen, daß sie sich in ihrer Stadt nicht hinsetzen können, wo sie wollen. Ein antidemokratisch gesonnener Innensensator, seine Polizei und private Sicherheitsdienste sorgen dafür, daß bei den Randgruppen keine entspannte Stimmung aufkommt. Die bürgerlichen Grundrechte auf Unantastbarkeit der Menschenwürde, auf Versammlungs- und Bewegungsfreiheit, genießt nur, wer zahlender Kunde ist, in Vereinen oder Lokalen herumlungert, sich zielstrebig von A nach B bewegt. Alle anderen Bürger dürfen stets mit einer Überprüfung ihrer Personalien rechnen, mit Platzverweis oder sogar mit einem Zwangsausflug per polizeilichem Sammeltransport, weit hinaus an den Stadtrand, zwecks Aussetzung und Innenstadtverschönerung. Aber die renitenten Schandflecke kehren nach einigen Stunden zurück, nehmen ihre Plätze ein und beweisen, daß gegen die gesellschaftlichen Mißstände keine kosmetischen Maßnahmen helfen. Auch der Ostpunk vom Prenzlauer Berg, der die tätowierten Buchstaben NAZI auf den Fingern der linken Hand trägt und bis heute verabsäumte, das RAUS auf der rechten Hand anzubringen, klagt über polizeiliche Schikanen. Ich treffe ihn in der Stadt, er ist sommerlich gekleidet, trägt aber dennoch, zur vielfach aufgeschlitzten, gut durchlüfteten Hose, seine vertrauten Springerstiefel. Im linken Nasenflügel prangt ein neuer silberner Ring. In seiner gewohnt atmlosen Art beginnt er sofort zu erzählen: „Ich muß rüber zum Alex, sie wollen uns da nicht haben mit unseren Hunden. Mit 'ner Wanne kamen die Bullen an, jetzt nehm' ich immer Papiere mit...“, er zeigt auf den Ring?“ und das Neuste, hier will ich 'ne Kette dranhaben, so lang etwa, die geht dann von hier zum Ohr, dann rechte Oberlippe, linke Oberlippe... Nein, wart mal: Eins, zwei, drei, vier, und noch mal, sind acht Ringe. Jetzt hab ich's, je einen in der Augenbraue und die Kette geht vonRing zu Ring.“ Er ist vollkommen ernst. Wahrscheinlich ist es auch vollkommen ernst. Mit solchen Selbstverstümmelungen versuchten sich die afrikanischen Neger für die Sklaverei unbrauchbar zu machen. Ich frage: „Befürchtest du nicht, daß dich dann jeder Polizist oder Skin an deiner Kette abführen kann wie der Bauer den Bullen?“ Er schaut mich entgeistert an und sagt belehrend: „Das ist doch unser Markenzeichen, davor kriegen sie ja grade Schiß! Und außerdem, das hat doch heut schon jeder Busfahrer, seinen Ring in der Nase oder im Ohr. Du, noch was anderes, was Trauriges muß ich dir erzählen, ist schon ein bißchen her, aber ich bin immer noch total fertig ... Es war so, ich hatte grade 'ne Party zu dem Zeitpunkt. Zwanzig krasse Punks eingeladen, hatte einen großen Weinballon zurechtgemacht – wo vier, fünf Mann dran ziehen können, Schrippen waren da, Schmalz, Buletten. Und wir, runter damit! Die Musik laut, bis einer dann doch das Klingeln gehört hat. Telefon is ja nicht, da waren also zwei gekommen, die teilten mir mit, daß meine Mutter und mein Stiefbruder ums Leben gekommen sind bei dem ICC-Unglück. Bis dahin wußte ich noch gar nichts von dem Unglück, sonst hätte ich mir schon was gedacht. Weil meine Mutter ja geschrieben hatte, daß sie mit dem ICC nach Hamburg fahren, die Oma besuchen. Später hab ich ja dann die Bilder gesehen, wie der ganze Zug da zerfetzt rumlag. Was mit meiner Mutter und meinem Stiefbruder war, das weiß ich bis heute nicht genau, sie haben nur gesagt „ums Leben gekommen“, sie haben sie „tot geborgen“. Wir haben dann die Party trotzdem weiterlaufen lassen, etwas leiser, klarerweise. Die Abwicklung von den ganzen Sachen, Überführung, Beerdigung und so, hat zum Glück mein Onkel übernommen. Irgendwann soll da auch mal Geld kommen, ab was hab ich davon? Das nehm' ich gar nicht, das bringt mir meiner Mutter auch nicht wieder zurück. So, und am nächsten Tag hab ich mir den Ring reinmachen lassen – aber das versteht ja doch keiner.“ Der hastige Abschied mit Händedruck gleicht einer Flucht.

Am Nachmittag bin ich mit dem Antiquar im „Seeling- Treff“ in Charlottenburg verabredet. Er sitzt am großen runden Tisch, gleich neben der Eingangstür und hält Hof. Es ist voll, Geschirrgeklapper, Stimmengewirr und eine leicht gereizte Stimmung erfüllt den Raum. Ich finde noch ein Plätzchen neben „Rosi- Ost“, auf einem abgestellten Autositz. Der Antiquar schenkt mir mit seiner gewohnt freundlichen Art Früchtetee ein und bietet mir eine Orange an, die ich mit Rosi teile. Tee und trockene Brötchen sind immer noch kostenlos, während das Essen – seit die Einrichtung in die Hand eines geschäftstüchtigen Trägers übergewechselt ist – nun etwas kostet. Das hat einige langjährige Besucher vertrieben, doch in der Not muß genommen werden was da ist. Rosi, eine resolut wirkende Frau Anfang vierzig, ehemals vollkommen intakt gewesene DDR-Bürgerin mit Beruf und Familie, ist eines der vielen Opfer der „Wende“. Sie erzählt mit fester Stimme und ruhigem Blick: „Ich bin jetzt aus der Kellerwohnung endlich raus, aus diesem feuchten Loch, da konnte man ja krank werden. Der Vermieter hatte einfach ein bißchen Tünche an die Wand getan, einen Teppichboden über den Schimmel verlegt, paar alte Möbel rein und teuer an mich vermietet, das Amt zahlt ja. Nur, wo ich jetzt bin, das halte ich auch nicht aus. Es ist so eine Art Wohnheim, Mehrbettzimmer, bei mir liegt eine Mutter mit drin. Der ihre Kinder hopsen den ganzen Tag auf den Betten rum mit Straßenschuhen, ich hab mir mit Mühe und Not eine Decke besorgt, damit nicht alles schmutzig wird. Ich weiß bald nicht mehr, was ich mache.“ Der Antiquar unterhält sich mit einem gutgekleideten, tadellos frisierten und rasierten Mann, an dem lediglich seine extreme Fistelstimme und sein Sächsisch auffällt. „Halten Sie die Reisedokumente bereit, machen Sie bitte Ihren Kofferraum auf!“ sagt der Mann in jenem verhaßten arroganten Tonfall der ehemaligen DDR-Grenzer. Der Antiquar lacht und fragt: „Und die Pornoheftchen und die Spiegel, die ihr uns immer weggenommen habt!“ Der Mann ruft mehr prahlerisch als entschuldigend: „Mußten wir, mußten wir doch. Das war die Vorschrift!“ „Und was habt ihr eigentlich gemacht, mit all den beschlagnahmten Sachen?“ fragt Rosi streng. „Verschieden“, antwortet er, „wir haben heimlich alles gelesen, haufenweise Spiegel und andere Westpresse haben wir gehabt und auch sonst, Essen, Hochprozentiges, wir haben ja alles eingezogen, was interessant und verboten war, wir vom Zoll. Und getauscht wurde, das gab's gar nicht, zum Beispiel Karl May war sehr begehrt, Schallplatten von den westlichen Rockgruppen, also wir waren vielleicht informierter, als so mancher BRD-Tourist, der uns blöd kommen wollte.“ Rosi wird ärgerlich: „Das war doch alles eine verlogene Bande, aber uns die Ausreise und alles verbieten!“ Der Zöllner a.D. ruft hohnlachend: „Unsinn, das hatten doch wir nicht zu verantworten, wir waren ein Teil der Grenztruppen der NVA, der Zoll, wir haben unseren Auftrag erfüllt, den grenzüberschreitenden Verkehr von Personen, Transportmitteln und Gegenständen kontrolliert. Was denkt ihr, was da alles geschmuggelt wurde, oft. Was da alles mitgeführt wurde, stangenweise, an Zigaretten, Spirituosen und was sonst noch alles. Die kamen ja rüber mit haufenweise Devisen, haben schwarz getauscht, eins zu sechs, eins zu zehn sogar, und dann alles billig, billig aus dem Intershop.“ „Aber der Intershop war ja extra für die Westtouristen, wir konnten da ja gar nicht einkaufen!“ sagt Rosi. Doch er widerspricht: „Freilich, freilich! Jeder konnte im Intershop einkaufen, mit Westmark, wenn die offiziell eingeführt waren. Manche Leute hatten ja auch ein Devisenkonto, Schriftsteller, Künstler... Jedenfalls haben wir fast immer was gefunden, wenn wir nur gründlich genug gesucht haben und wenn uns einer blöd kam, dann haben wir ihm das komplette Auto auseinandergenommen, das mußte dann von einer Fachwerkstatt wieder zusammengesetzt werden, und wehe, wir hatten was gefunden, dann mußte der alle Kosten selber zahlen. Und bei Devisenvergehen, da ging's gleich ab mit der Volkspolizei und hinter Gitter.“ Er ist erfüllt von sadistischer Genugtuung. „Widerlich“, sagt der Antiquar, „ich verstehe nicht, wie Leute sich an so was hochziehen können.“ „Das waren alles solche kleinen Angeber, die's nötig haben, du siehst ja, er lebt heute noch auf, neun Jahre später!“ sagt Rosi verächtlich. „Das ist eine bösartige Unterstellung“, ruft der Zöllner a.D. in noch höherer Tonlage aus, „es gibt an allen Staatsgrenzen der Welt Vorschriften, Devisenbestimmungen, die gelten immer noch in Europa, auch wenn die Grenzen nicht mehr direkt bewacht sind, kontrolliert wird trotzdem, muß ja sein, und bei uns kamen eben die besonderen Bestimmungen für den Reise- und Besucherverkehr dazu, was glaubt ihr, wie viele staatsfeindliche Kräfte die Staatsgrenzen der DDR sonst unterlaufen hätten, um sich auf dem Hoheitsgebiet der DDR ungestraft zu tummeln? Ihr habt ja keine Ahnung! Ich war ja auch eingesetzt auf den Transitstrecken.“ „Was hattet ihr denn da für Dienstfahrzeuge?“ fragt der Antiquar, „ihr hattet doch nur lahme Enten!“ „Ladas hatten wir“, kommt die prompte Antwort, „aber mit frisierten Motoren drin, damit krieg den. Wir hatten ja strenge Geschwindigkeitsbegrenzung auf 100 Stundenkilometer. Kam uns was verdächtig vor, haben wir einfach unsere Kelle rausgehangen. Zoll! Halten Sie bitte. Mitten auf der Straße, egal, wir haben sie oft nicht mal rausgewunken, sondern dichtgemacht und die ganze Schlange warten lassen und das war uns egal, ob die Schlange 200 Meter, zehn Kilometer oder noch länger wurde, wir haben mit aller Gründlichkeit kontrolliert, in aller Ruhe, und ich schäme mich gar nicht, es ehrlich zu sagen, wir haben Spaß gehabt an der Schikane!“

„Pfui!“ zischt Rosi, der Antiquar kichert, weil ihn jede skandalöse Erregung freut, und der Zöllner a.D. verteidigt sich: „Wenn ihr die gesehen hättet, die eingebildeten Pinkel, in ihren Westautos, wie sie auf uns runtergespuckt hätten am liebsten und sich nur nicht getraut haben, weil wir für einen halben Tag am längeren Hebel saßen, nä, wie groß die Verachtung in Wirklichkeit war, das haben wir ja erst hinterher gesehen. Ich habe bis 89 gedient, und bin nicht übernommen worden. Es sind überhaupt nur 600 von uns übernommen worden vom Bund, die anderen sind alle Vorruhestand, arbeitslos oder Wachdienst.“

„Und jetzt bis du selber ein Wessi, kannst in Westautos rumfahren, hast schöne Klamotten, Reisefreiheit, Stütze, alles, was du willst!“ bemerkt Rose mit Genugtuung. „Was ich will?“ haucht der Erregte. „Weißt du, was ich will? Ich will meine Arbeit wiederhaben, meine schöne Wohnung – und meine Frau, denn die hat mir auch ein Wessi weggenommen!“ Er steht abrupt auf und geht.

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