: Psychogramm eines Irrtums
■ Die Dokumentation "Verlorene Unschuld" machte einen Fall von Kindesmißbrauchshysterie in den USA bekannt. Heute zeigt Arte um 22.30 Uhr die Fortsetzung: "Ein Justizirrtum"
Einer der bekanntesten Fälle von Massenhysterie in Verbindung mit angeblicher Kinderschändung ist der „Little Rascals-Case“. Benannt nach einer Kindertagesstätte im kleinen Städtchen Edenton, North Carolina. 1988 werden dort Robert und Betsy Kelly, die Leiter des Kinderzentrums „Kleine Räuber“, vier ihrer Mitarbeiter sowie der Besitzer eines Videogeschäfts verhaftet und des „sexuellen Mißbrauchs“ Hunderter von Kindern angeklagt. Auslöser des Falls ist, nach Meinung der Beschuldigten, eine rachsüchtige Mutter, deren Kind von Robert Kelly geschlagen wurde. Durch Gerüchte, die von ihr in Umlauf gebracht werden, verfällt die Kleinstadt in eine Massenhysterie.
Die örtliche Staatsanwaltschaft startet massive Ermittlungen, und die drei- bis fünfjährigen Kinder geraten in die Hände von „Therapeuten“, die sie so lange manipulieren, bis sie vor Gericht die merkwürdigsten Sexualphantasien von sich geben. Trotz der fragwürdigen Aussagen, mangelnden Augenzeugen und fehlenden medizinischen Gutachten werden sechs der Angeklagten zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt.
Bekannt wurde der „Rascals“- Fall auch durch den Dokumentarfilm „Verlorene Unschuld“ von Ofra Bikel, die die ersten Prozesse minutiös verfolgte und die Rolle der Eltern und der „Therapeuten“ beleuchtete. Jetzt zeigt Arte die Fortsetzung der „Verlorenen Unschuld“, den zweiten Teil der Dokumentation, der bis ins Jahr 1997 reicht: „Ein Justizhandel“.
Im Mittelpunkt stehen diesmal ausschließlich die Angeklagten: Robert Kelly, der, zu zwölfmal lebenslänglicher Haft verurteilt, sechs Jahre im Gefängnis saß; seine Frau Betsy, die Jahre in der Untersuchungshaft verbrachte und schließlich einer Absprache mit der Staatsanwaltschaft zustimmte, um dafür noch einmal ein Jahr ins Gefängnis zu gehen; oder Scott Privott, der ehemalige Besitzer des Videogeschäfts, der, und allein aufgrund eines Gerüchts, dreieinhalb Jahre im lokalen Gefängnis einsaß.
Bikel läßt die Beschuldigten erzählen, und das ist die Qualität des Films. Auf eindringliche Weise werden die psychischen und sozialen Folgen der falschen Anklage gezeigt. Der innere Konflikt, aus dem sich die Beschuldigten zumindest teilweise befreien können, indem sie einer „Absprache“ zwischen der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft zustimmen, die zu einem perversen Machtmittel einer Justiz wird, die bewußt Fälle verschleppt oder immer neue Verfahrenstricks auffährt.
Dieses Psychogramm eines Justizirrtums ist in seiner stillen Dramatik beeindruckend, und zugleich ist diese Darstellung auch die Schwäche des Films. Denn Bikel geht den leichtesten Weg, konzentriert sich ganz auf die Beschuldigten und ihre Angehörigen, weil es leicht ist, sich auf ihre Position als Opfer einzulassen. Bikel hat versucht, mit der zuständigen Staatsanwältin über den Fall vor der Kamera zu sprechen, diese lehnte jeoch ab. Der Zuschauer würde aber gern mehr erfahren über die Motivation dieser gnadenlosen Staatsanwältin und ihrer hysterischen Handlanger: Was zum Beispiel ist aus den grausamen „Therapeuten“ geworden? Doch Bikel greift nicht darüber hinaus, daß der „Rascals“-Fall einen Systemfehler des amerikanischen Rechts bloßlegte. Mitten im Film sagt einer der Betroffenen: „Das System ist gut, wir müssen darauf vertrauen.“ Ein Satz, wie aus US-Krimi- oder Gerichtsserien: „Wir haben das beste Recht der Welt.“ Jedesmal klingt es wie ein ängstliches Kind, das im Dunkeln vor sich hinpfeift. Wenn man die zerbrochenen Gesichter der Angeklagten im Film sieht, weiß man, warum. Michael Ringel
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