Leerer Saal in Frankreichs größtem Terrorismusprozeß

■ Seit drei Wochen wird in einem Mammutverfahren angeblichen Islamisten der Prozeß gemacht. Angeklagte und Verteidiger lehnen das Tribunal wegen rechtsstaatlicher Bedenken ab

Fleury-Merogis (taz) – „Mit den Islamisten habe ich nichts zu tun. Auch nicht mit den Kommunisten oder den Sozialisten.“ Mohamed T. schreit seine Aufzählung beinahe in das Mikrofon. Der Richter vor ihm soll kapieren, daß ihm „Politik, jede Art von Politik, total egal ist“. In einem weiten grau- glänzenden Sonntagsanzug erzählt der gebürtige Algerier gleich noch ungebeten dazu, daß er „wahrlich kein Engel“ ist. Daß er Schlägereien, bewaffnete Überfälle und den Diebstahl eines Personalausweises auf dem Buckel hat. Sogar das Datum, an dem er das Auto aufgebrochen hat, um die Papiere zu stehlen, die er für sich selbst brauchte, nennt er. Aber mit den „bewaffneten islamischen Gruppen“ (GIA), wegen denen er jetzt angeklagt ist, will er rein gar nichts zu tun haben.

In der eigens zum Gerichtssaal umgebauten Turnhalle ist es eisig kalt. Mindestens eine Stunde im Auto und beinahe zwei Stunden im öffentlichen Nahverkehr sind nötig, um an den abgelegenen Verhandlungsort zu kommen: Aussteigen an der Bus-Endstation vor dem Gefängnis Fleury-Merogis im Süden von Paris. Über durchweichten Wiesen balancieren die BesucherInnen auf Holzbrettern zur Turnhalle. Sie liegt zwischen Gefängniswachtürmen und Stacheldrahtrollen. Rundum beobachten Hunderte von Polizisten jede Bewegung. Ankommende Pkws durchsuchen sie an zwei Straßensperren. Im Eingang zur Turnhalle tasten sie die BesucherInnen ab. Nehmen Parfümsprays in Augenschein. Klopfen lehmige Schuhabsätze ab.

Drinnen herrscht gähnende Leere. Drei Wochen nach dem Beginn des Mammutprozesses kommen die meisten der 138 Angeklagten und 50 der 55 VerteidigerInnen nicht mehr hierher. „Eine rechtsstaatliche Verhandlung ist unter diesen Umständen nicht möglich“, hat der Präsident der Pariser Anwaltskammer, Mario Stasi, begründet: Da sind viel zu viele Personen mit viel zu unterschiedlichen Geschichten von einem ehrgeizigen Anti-Terror-Richter in einen einzigen Prozeß gezwängt worden. Da ist extra ein neues Gesetz geschaffen worden, um fernab von Paris zu verhandeln – unter Ausschluß der Öffentlichkeit und auf einem Gefängnisgelände.

Der Prozeß gegen das „Chalabi- Netz“, wie Anti-Terror-Richter Jean-Louis Bruguiere das Ergebnis seiner vierjährigen Vorarbeiten nennt, ist das größte Justizereignis der französischen Geschichte. Drei Wochen nach Prozeßbeginn sind nur noch ein paar Dutzend der 400 Stühle besetzt.

Eine Frau im grellgrünen Kopftuch und mit hennagefärbten Fingerspitzen kommt täglich und schreibt halb auf französisch, halb auf arabisch alles mit, was sie in der Turnhalle erlebt. Sobald sie eine Journalistin oder einen Journalisten sieht, beginnt sie ihr Lamento. Ganz leise – „weil hier garantiert jedes Wort abgehört wird“. Sie fühle sich an das „französische Algerien“ erinnert, sagt sie. Dann, leicht weinend: „Die behandeln uns wie Vieh.“ Sie hat Angehörige unter den Angeklagten. Wen, das will sie nicht sagen.

Der Vorsitzende Richter Bruno Steinmann verhandelt vor fast leerem Saal. Seine einführenden Worte zu jedem neuerlichen Angeklagten – egal ob der anwesend ist oder nicht – sind voller Ironie. „Natürlich wußte er nichts von den falschen Papieren in seiner Wohnung“, sagt er einem. „Selbstverständlich hat er nicht die geringste Ahnung von der illegalen Tätigkeit des Mannes gehabt, dessen Telefonnummer in seinem Adreßbuch stand“, sagt er einem anderen.

Fast alle Angeklagten gerieten bei Razzien in den Jahren 1994 und 1995 in das Dossier. Die ersten Stunden nach ihrer Verhaftung verbrachten manche von ihnen an Heizungen gekettet in Poizeiwachen. Die Razzien fielen in die Zeit, als die französische Unterstützung für die Militärs in Algier noch ungebrochen war und als eine Attentatsserie in Paris die Suche nach IslamistInnen zur höchsten Priorität machte. Manche Verhafteten, darunter komplette Einwandererfamilien, verbrachten ein ganzes Jahr in Haft, bevor sie zum ersten Mal ein Gespräch mit dem Anti-Terror-Richter Bruguiere hatten, in dem viele erklären konnten, daß sie nicht das geringste mit den Islamisten zu tun haben.

Eine hochschwangere Mandantin von Verteidiger Daniel Voguet wurde zwei Monate nach ihrer Verhaftung mit Handschellen an Händen und Füßen zur Entbindung transportiert. Erst mehrere Monate später hatte Richter Bruguiere erstmals Zeit, die junge Frau zu verhören. Wenige Stunden danach setzte er sie auf freien Fuß. Dorothea Hahn