: Ein bißchen Visionen
■ Von der Steinzeit bis zur Bundestagswahl: Helmut Kohl muß weg, weil er zuviel ißt. "Neue Freiheit" - das neueste Stück von Herbert Achternbusch wurde in Hamburg uraufgeführt
Ein berühmter Filmemacher, Autor, Regisseur, Schauspieler und Maler ist der Münchner Herbert Achternbusch. Ein großer Tierfreund ist er bekanntlich auch. Nashörner, Büffel, Hühner und Elefanten tauchen in seinen bayrischen Heimatzersetzungsfilmen auf, und zur Uraufführung seiner Revolutionsfarce „Auf verlorenem Posten“ hatte er 1990 sogar ein Kamel auf die Bühne der Münchner Kammerspiele gestellt. Mit „Neue Freiheit. Keine Jobs. Schönes München. Stillstand“, der jüngsten Achternbusch-Uraufführung am Freitag im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses, gelang es dem dramaturgischen Zoologen darüber hinaus, sich an die Spitze der Fossilienpräsentanten zu bewegen: Neben einem echten Schäferhund, gemalten Flamingos und einer ausgestopften Wölfin ist auf der Bühne ein Helmut Kohl zu bestaunen. Und das, obwohl der schon lange tot ist. Sollte man den Begriff Politik in irgendeiner Weise mit Handeln verbinden, läßt „Neue Freiheit“ keinen Zweifel daran, daß die Spezies Politiker längst ausgestorben ist. Und das Volk, wollte man diesen Begriff mit mündig assozieren, im übrigen ganz genauso.
Josef Bierbichler ist ein lebender Schauspieler. Im März spendete er 20.000 Mark für Christoph Schlingensiefs Partei Chance 2000. Auch als er Achternbuschs Skript zum Film „Neue Freiheit...“ las, der auf der Berlinale uraufgeführt wurde, aber bis heute keinen Verleih fand, hat er gehandelt: „Ich hab' sofort gewußt, daß man das auf der Bühne besser machen kann.“ So kam der langjährige Achternbusch-Darsteller zu seiner ersten Regiearbeit. Schwierigkeiten bei der Bühnenübersetzung hätten nur die Traumszenen gemacht. Und sie sind es auch, die die eindreiviertelstündige Aufführung nach einem in seiner lakonischen Lethargie grandios komischen Einstieg zerdehnen und am Ende nicht mehr als mittelmäßig machen.
Eine Guckkastenbühne aus Beton hat Anna Viebrock entworfen. Im Gegensatz zu ihren meist überproportional hohen Räumen ist dieser cinemascopebreit, steht ihnen jedoch an Trostlosigkeit in nichts nach. Zwischen Fußgängerzonenbänken und Abfalleimern liegt eine Sandkiste mit Tiefgaragencharme. Hier sucht Hick (Achternbuschs filmisches Alter ego, gespielt von Peter Brombacher) nach irgendwas, kann aber nichts finden. Daran, so erklärt ihm ein Polizist überzeugend, ist Helmut Kohl Schuld. „Der frißt wie ein Scheunendrescher, und du wirst immer seltener satt. Wir auf dem Revier sind alle dieser Meinung.“ Hick, abgewrackt, aber nicht auf den Kopf gefallen, zieht die Konsequenzen: „Dann muß der weg!“
Die bayrische Freund-und-Helfer-Patrouille schimpft gern auf das „geschissene Berlin“, aber wenn Hick mal austreten muß, hält sie bereitwillig in wechselnden Schichten sein flugs gefertigtes „Befreit mich von Helmut Kohl“- Plakat. Die Männer sind mit solcher Blödheit geschlagen, daß der Oggersheimer Kanzler als wohlverdientes Schicksal erscheint. Vor allem weil klar wird, daß das deutsche Dilemma der Passivität und Beschränktheit mit jedem neuen Kanzler das alte bliebe.
So weit, so weise. Doch leider versucht das Stück den ganz großen Wurf: die Geschichte der Menschheit von der Steinzeit bis zur Bundestagswahl als eine von Fortschritt und Stillstand zu zeichnen. Der geht daneben. Die Urzeitszenen im paradiesischen Panorama bleiben bestenfalls klamaukig. Als kurze Comicbilder hätten sie vielleicht funktioniert, in der Länge veröden sie nur die anfangs so gelungene Langsamkeit.
„Ein guter Text wächst von allein“, erläuterte Bierbichler sein Regiekonzept: „Schauspieler und Regisseur müssen nur hinhören, wenn es klingelt.“ Ein bißchen Vision seitens des Regisseurs darf es aber doch sein. So sitzt man im Malersaal, starrt auf die im Sand vergrabenen Pappkartontürme der Frauenkirche und wünscht inbrünstig, sie würden endlich in ohrenbetäubendes Geläute ausbrechen. Christiane Kühl
„Neue Freiheit. Keine Jobs. Schönes München. Stillstand“, Deutsches Schauspielhaus, Hamburg. Regie: Josef Bierbichler. Termine: 22., 23., 25., 26., 27.9.
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